Alissa 1 - Die erste Wahrheit
klug. Sie beobachtete voller Mitgefühl, wie seine gebeugte Gestalt langsam den Lichtkreis des Feuers verließ. Einen Moment lang hörte sie ihn knackend durchs Unterholz streifen, dann nichts mehr. Kralle flog mit leisem Flügelschlag hinter ihm her. Alissa hob die Hand, um sie aufzuhalten, ließ sie aber wieder sinken. Der freche Vogel hatte sie schon unzählige Male aufgeheitert. Vielleicht konnte Kralle Strell auf andere Gedanken bringen.
Sie kümmerte sich weiter um seinen alten Hut und dachte über seinen Vorschlag nach. Beim letzten Mal war sie eine passive Teilnehmerin gewesen, doch was, wenn sie die Situation tatsächlich lenken konnte? Tief in Gedanken versunken, zerrte sie ihr Bündel zu sich heran und suchte nach den Blaubeeren, die vom Abendessen übrig geblieben waren. Sie und Strell waren übereingekommen, ihre Vorräte in Alissas Tasche zu verstauen. So war es einfacher. Sie bekam immer lange vor ihm Hunger.
Sie kippte die Beeren in ihre Schüssel und schwor sich, dass sie ein paar für Strell aufheben würde. Mit der Schüssel im Schoß lehnte sie sich an den Baum und sandte ihre Gedanken zum heutigen Morgen zurück. Nutzlos hatte gesagt, ihre Kopfschmerzen kämen von einer Blockade an ihren – wie hieß das – Synapsen? Er hätte sie ebenso gut Windmühlen nennen können, so wenig verstand sie davon. Es hatte aber nicht besonders schwierig ausgesehen, den Fluss dieser schimmernden Energie in den richtigen Kanal zu lenken – sofern sie dieses Labyrinth aus verschlungenen Linien wiederfinden konnte.
Alissa tastete nach einer weiteren Beere, schloss die Augen und versuchte, diesen seltsamen Zwischenraum irgendwo in ihren Gedanken zu finden. Doch je mehr sie sich bemühte, desto alberner kam es ihr vor. Errötend gab sie auf. Wahrscheinlich hatte sie sich das alles nur eingebildet, dachte sie und ließ den Kopf langsam gegen den Baumstamm sinken.
Das Rascheln des Windes in den Zweigen war beruhigend, und sie lächelte und schloss erneut die Augen. Das erinnerte sie an früher, als sie oft auf die Kiefern hinter dem Haus geklettert war, um die westlichen Hügel besser sehen zu können. Sie hatte fast einen gesamten Herbst in diesen Bäumen verbracht, sich die Handflächen zerschrammt und Harz ins Haar geschmiert – und Ausschau nach Papa gehalten.
Alissa sank bei dieser traurigen Erinnerung zusammen und verbannte alle Gedanken aus ihrem Geist, weil sie jetzt nicht an ihren Vater denken wollte. Vor Jahren hatten ihre Mutter und sie einsehen müssen, dass er wohl nicht mehr am Leben war, aber das sicher zu wissen, es nacherlebt zu haben, ließ den Schmerz so frisch aufflammen wie in jener Winternacht, als ein schluchzendes, verängstigtes Kind von allein zu dem Schluss gekommen war, dass Papa diesmal nicht wieder nach Hause kommen würde.
»Nichts«, flüsterte Alissa, vertrieb willentlich alle Gedanken und atmete tief und langsam aus. »Leere.« In diesem Fehlen von Gedanken lag Frieden. »Dunkelheit.« Sie versank tief in sich selbst und fand diesen stillen Punkt des Nichts; ihre Mutter hatte oft mit ihr geübt, wie Alissa ihn erreichen konnte, wenn sie die Beherrschung zu verlieren drohte. In dieser Gedankenleere bemerkte Alissa ein dünnes, schimmerndes Etwas. Es trieb am Rand ihres innerlichen Gesichtsfeldes, eigentlich gar nicht da, und sie lächelte über ihre kindliche Einbildung, zu gern bereit, sich auf alles zu stürzen, was sie nicht an ihren Papa erinnerte.
Sie ließ es wachsen. Es erblühte von einer Schliere zu einem verschmierten Fleck, bis sie erschrocken feststellte, dass es tatsächlich da war! Tief in ihrem Unterbewusstsein, zwischen ihren Gedanken und der Wirklichkeit, schwebte eine leuchtende, silbrig-goldene Kugel. Sie riss die Augen auf, und die Kugel war verschwunden.
Alissa stockte der Atem, und ihr Herz pochte laut. Das war nicht das prachtvolle, weit verzweigte Netz, das sie heute Morgen kurz gesehen hatte. Das war etwas anderes!
Da sie nun wusste, wie sie bei dieser Erkundung ihres Geistes vorgehen musste, schloss sie erneut die Augen und ließ ihre Konzentration ins Leere schweifen. Es war so ähnlich, wie wenn man in einer dunklen Nacht einen trüben Stern finden wollte. Wenn man den Stern direkt ansah, war er nicht zu erkennen, doch wenn sie ein wenig daran vorbeischaute, entdeckte sie ihn vielleicht aus den Augenwinkeln. Es war mühsam, doch bald hatte sie das schwache Leuchten wiedergefunden. Das Licht kam von einem dicken Knäuel in sich selbst verschlungener
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