Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Schultern kreisen ließ. »Du hast mir nicht geantwortet. Da habe ich mir gedacht, dass du irgendetwas ausprobierst.«
Ein wenig erleichtert griff Alissa in ihre Schüssel und stellte fest, dass nur noch drei Beeren übrig waren. Er hatte sie alle gegessen. Steif streckte sie ihm die Schüssel entgegen. »Möchtest du die auch noch?«
»Ja«, brummte er, und ihre Augen weiteten sich, als er sich tatsächlich vorbeugte und die Beeren nahm.
»Warum überrascht mich das nicht?«, murmelte sie leise. Ihre Konzentration musste so tief gewesen sein, dass sie nicht mehr mitbekommen hatte, was um sie herum vorging. Das gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht.
»Also …« Strell drehte sich um, griff nach Alissas altem Schlapphut und reichte ihn ihr. Er war voll frisch gepflückter Blaubeeren. »Was hat deine Aufmerksamkeit so in Anspruch genommen, dass ich dir Essen klauen konnte?«
Alissas Zorn schmolz zu einer verwirrenden Mischung aus Freude und Verlegenheit dahin, und sie kämpfte darum, nicht zu erröten, als sie die Hälfte der Beeren in ihre Schüssel kippte und ihm den Rest zurückgab. »Ich bin nicht ganz sicher, was ich getan habe«, gestand sie. »Man könnte vielleicht sagen, dass ich eine Verbindung hergestellt habe, zwischen etwas und nichts und wieder zurück. Es hat mich überrascht. Ich habe es verloren.«
»Etwas und nichts, ja?«, neckte er und steckte sich eine Beere in den Mund. »Meinst du, du könntest das wieder tun?«
»Wie, jetzt gleich?«
»Ja. Jetzt.«
»Nicht, wenn du mir dabei zusiehst.« Asche, dachte sie, war das peinlich!
»Ich mache dir einen Vorschlag. Ich gehe dort hinüber« – er deutete auf seine übliche Seite des Feuers – »und ignoriere dich vollkommen.« Er grinste und fand irgendetwas an dieser Idee offenbar sehr komisch.
Alissa runzelte die Stirn, unsicher, ob sie sich konzentrieren konnte, wenn sie fürchten musste, dass er sie womöglich beobachtete.
»Ach, versuch es doch«, redete er ihr gut zu, nahm den Hut mit den Beeren und ging hinüber. »Außer du möchtest wirklich warten, bis ich schlafe, bevor du es noch einmal versuchst?« Er pfiff ein Kinderlied über drei Mäuse und ihre unglückselige Expedition in eine Küche vor sich hin, griff dann in seine innere Manteltasche und holte die Flöte heraus. Er tat, was er versprochen hatte, ignorierte sie vollkommen und begann, das Instrument zu polieren.
Sie beäugte ihn argwöhnisch, doch erst als er ein Wiegenlied spielte, atmete sie tief durch, schloss die Augen und verließ sich darauf, dass er Wort halten würde. Diesmal ging es leichter, und es gelang ihr, die Wahrnehmung des Lagers nicht völlig zu verlieren, als die Kugel nach vorn in ihr Bewusstsein trieb. Die einzelnen Bänder aus goldenem, gelbem und weißem Licht, die der Kugel ihre Form gaben, leuchteten so intensiv, dass es beinahe schmerzte. Noch faszinierender war jedoch, dass sie sich nicht auf die Lücken zwischen diesen Bändern konzentrieren konnte. Ihre Wahrnehmung schien daran abzugleiten.
Doch sie könnte einen Gedanken zwischen den Bändern hindurchschieben, und während sie Strells Musik lauschte, versuchte sie genau das. Erneut wand sich das Band aus Energie durch ihren Geist. Der ableitende Kanal war offen, bevor die hereinströmende Energie Gelegenheit hatte, sich aufzustauen und ihr Kopfschmerzen zu bereiten. Mit großer Befriedigung fühlte Alissa die Energie reibungslos wieder dorthin zurückfließen, wo sie hergekommen war, indem sie eine sich überkreuzende Schleife bildete.
Nun war sie bereit, etwas Neues auszuprobieren, doch sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte. Vorsichtig entzog sie der glitzernden Schleife einen Teil ihrer Aufmerksamkeit, um sie wieder auf ihre Umgebung zu richten. Strells Flötenspiel und das Zischen des Feuers drangen in ihr Bewusstsein. Sie konnte beinahe die dicke Wolle unter ihren Beinen und die flackernde, unbeständige Wärme des Feuers spüren. Beruhigt, dass alles so war, wie es sein sollte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Schleife und suchte nun nach dem chaotischen Wirrwarr von Linien, den sie am Morgen gesehen hatte.
Als ihr Fokus sich an einem entspannten Punkt der Stille sammelte, trieb das Spinnennetz aus geistigen Pfaden in ihr inneres Blickfeld. Das helle Leuchten der Kugel und der überkreuzten Schleife hatte sie so abgelenkt, dass sie es vorher nicht bemerkt hatte. Da die feinen Kanäle leer waren, konnte man sie kaum erkennen. Sie waren von so dunklem Blau, dass
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