Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Familie war mehr da. Nichts konnte sie ersetzen. Nichts.
Strell weigerte sich, den Kloß in seiner Kehle zur Kenntnis zu nehmen, legte Alissa auf ihre Schlafmatte und zog ihr die Decke bis unters Kinn, so, wie sie es gernhatte. Das kleine Säckchen, das sie um den Hals trug und stets vor ihm zu verbergen versuchte, war aus ihrem Kittel herausgefallen. Strell musterte es und überlegte, ob sie ihm wohl sagen würde, was das war, wenn er sie direkt danach fragte.
Sein alter Hut steckte unter ihr, und er zog ihn heraus und gab ein überraschtes Brummen von sich, als er ihn näher betrachtete. Alissa hatte schmückende Stickerei mit den ursprünglichen Nadelstichen verbunden, und nun sah es so aus, als ziehe sich ein Getreidestängel um die Krempe. Er hatte schon daran gedacht, sie zu fragen, ob sie die Hüte wieder zurücktauschen wolle, sobald sie seinen alten geflickt hatte, doch jetzt würde er nicht mehr darum bitten. Sie hatte so viel Mühe in diesen Hut gesteckt. Vorsichtig legte er ihn beiseite und räumte Nadel und Faden weg. Zufrieden warf er Kralle einen Blick zu, als frage er nach ihrem Einverständnis. Der schlaue Vogel starrte Alissa an, als sei er jederzeit bereit zum Angriff.
Strell stürzte sich auf sein Bündel und kramte verzweifelt nach dem Geschüh. »Bei den Wölfen! Wo sind diese Riemen?«, fluchte er. »Was nützt ein Geschüh, wenn der Vogel es nicht trägt? Alissa muss sie versteckt haben!«
»Jawohl«, ertönte Alissas Stimme, voll finsterer Ironie. »Was nützen die besten Vorbereitungen, wenn sich jemand einmischt und alles durcheinanderbringt?«
Strell wirbelte herum, um Kralle mit Gewalt unter Kontrolle zu bringen, doch der kleine Vogel war fort! »Wo ist der Falke?«, rief er und sah Alissa im Schneidersitz auf ihrer Matte sitzen, die Fingerspitzen in einer gelehrten Geste aneinandergelegt. Doch das war nicht Alissa; ihre Augen wirkten auf einmal uralt vor unschätzbarer Weisheit – es war Nutzlos.
»Ich habe ihn fortgeschickt, damit er sich nicht selbst in Gefahr bringt«, verkündete Nutzlos. » Er schwebt nicht in Gefahr. Er hört ja auf mich. Ihr beiden hingegen …«
Ohne Alissa aus den Augen zu lassen, sank Strell steif auf seine Schlafmatte. Das gefiel ihm überhaupt nicht. »Was willst du?«, fragte er angriffslustig.
»Ihr seid noch näher an der Feste«, sagte Nutzlos ungläubig. »Ich hätte erwartet, dass man dir im Tiefland mehr Ehrgefühl eingeflößt hätte. Deine Wünsche über das Leben eines anderen Menschen zu stellen ist feige.«
Strell zuckte zusammen und spürte, wie sich sein Zorn zu etwas Dauerhafterem verfestigte. Als Nutzlos das erste Mal erschienen war, hatte er ihn erschreckt und verängstigt. Beim zweiten Mal hatte Nutzlos ihn so ausgescholten, dass Strell sich wie ein ungebildeter Bauernlümmel vorgekommen war. Jetzt hatte Strell keine Angst, und er würde sich die herablassende Art dieses Mannes nicht mehr gefallen lassen. »Glaubst du vielleicht, ich hätte es nicht versucht?«, rief er. »Alissa tut, was ihr gerade einfällt, und sonst gar nichts. Sie will nicht auf mich hören.«
»Ein so zierliches kleines Ding?«, spottete Nutzlos und wies mit dramatischer Geste auf sich selbst, oder vielmehr auf Alissa. »Du könntest sie einfach wegtragen.«
»Du hast deine Sache auch nicht besser gemacht.« In selbstgerechter Empörung rückte Strell seinen Mantel zurecht. »Sie den Tod ihres Vaters durchleben zu lassen war grausam. Sie schert sich keinen Deut um Bailic. Sie glaubt, er würde nicht erfahren, wer sie ist, bis es zu spät ist. Sie will das Buch ihres Vaters.«
»Das ist mein Buch«, protestierte Nutzlos unerwartet heftig. »Er sollte es nur für mich aufbewahren! Und was, bei der Asche meines Vaters, will sie überhaupt mit der Ersten Wahrheit anfangen?« Dann ließ er Alissas Augen blinzeln und erschauerte. »Weiß … weiß sie, wo es ist?«, fragte er leise, wobei er seine Gier nur schlecht verbarg.
»Nein«, sagte Strell mit zusammengebissenen Zähnen. »Nur dass es in der Festung ist und sie es finden kann, Bailic aber nicht.« Er stocherte im Feuer herum, um seine Wut zu besänftigen. Dieses Gespräch verlief nicht so, wie er wollte. Er hatte viel darüber nachgedacht, was er sagen würde, falls Nutzlos sich wieder zeigte. Sosehr es ihm auch widerstrebte, Strell würde versuchen, den Mann aus seinem Gefängnis zu befreien – wenn er Alissa schon nicht dazu überreden konnte, mit ihm an die Küste zu gehen.
»Hör mal«, erklärte
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