Alissa 1 - Die erste Wahrheit
herüberbeugte. So laut, dass auch Bailic es hören konnte, flüsterte er: »Keine Sorge. Ich habe das schon oft genug gemacht. Ich sehe hier keine Dienstboten. Wenn wir nicht als Spielleute angeheuert werden, können wir uns gewiss als Küchenhilfen verdingen.« Er drückte ihre Schulter, doch sie war nicht sicher, ob das eine Ermunterung sein sollte oder eine Warnung, nur ja den Mund zu halten.
Die kleine Tür führte in eine spärlich erleuchtete Küche. Bailic schob einen angelaufenen Kessel über das Feuer, und nachdem er helle Flammen entfacht hatte, nahm er am Kopfende eines der drei Tische Platz. Strell und Alissa setzten sich ans Fußende. In Strells Augen blitzte bei der Aussicht, die Bedingungen ihres Aufenthaltes auszuhandeln, ein hartes Glitzern auf – der Tiefländer in ihm erwachte. Alissa musste sich eingestehen, dass sie die beiden lieber ignorierte und sich stattdessen staunend umblickte.
Einfach ausgedrückt war dies die größte Küche, die sie sich vorstellen konnte. Die Decke hing beinahe zwei Stockwerke hoch über ihnen, damit die Hitze nie unerträglich wurde, nicht einmal im Spätsommer. Kronleuchter, die unbenutzten Kerzen vom Alter ergraut, hingen von dicken Stützbalken, die sich dort kreuzten, wo eine normal hohe Decke gewesen wäre. Erstaunliche drei offene Kamine nahmen die nördliche Wand ein; nur der kleinste war gerade in Gebrauch. Gewaltige Metalltüren waren dazwischen in den Stein eingelassen, hinter denen sich Öfen verbergen mussten, groß genug für ein ganzes Schaf. Eine gesamte Wand war Küchenutensilien gewidmet, von denen Alissa einige noch nie gesehen hatte und nicht einmal erraten konnte, wozu sie dienen mochten. In einer Ecke – so groß wie ihre ganze Küche zu Hause – hingen Kräuter herab wie eine niedrige, einstmals duftende Decke. Nun, alt und vergessen, sahen sie spröde und geschmacklos aus.
»Das klingt angemessen«, sagte Strell laut und riss sie aus ihren Gedanken. »Was meinst du, Salissa?«
»Entschuldige. Ich habe nicht zugehört.« Sie errötete, zu verlegen, um sich darüber zu ärgern, dass er ihren Namen verunstaltete. Dann fiel ihr wieder ein, dass es im Tiefland Sitte war, seinen Kindern Namen zu geben, die mit demselben Buchstaben begannen.
Bailic beugte sich vor, und sie kämpfte darum, nicht zu erstarren. »Ihr habt angedeutet, sie sei Eure Schwester«, sagte er mit aufgesetzter Verwunderung. »Eure Aussprache ist ganz unterschiedlich.«
»So ist es«, stimmte Strell hastig zu. »Sie ist meine Halbschwester – nun, jedenfalls soweit mein Vater weiß.« Mit einem vertraulichen Grinsen beugte er sich zu Bailic vor. »Unter uns, sie ist keine große Musikantin. Vater wollte sie verheiraten, und als sie sich weigerte, verbannte er sie an Finsters Feine Töchterschule, damit sie Manieren lernt. Die liegt am Rand des Hügellandes. Daher hat sie diesen barbarischen Akzent.«
Bailic blickte von Strell zu ihr und zog die Brauen in die Höhe. »Warum reist sie dann mit Euch?«
»Bedauerlicherweise«, sagte Strell seufzend, »ist sie zu starrköpfig. Nicht einmal die werten Damen in Finsters Schule konnten etwas bei ihr ausrichten. Keine Schönheit, kein Talent, was sollte Vater mit ihr machen?«
Trotz ihrer Angst begannen Alissas Wangen zu brennen.
»Sie ist meine Lieblingsschwester, trotz ihrer – sagen wir, fragwürdigen Abstammung«, erklärte Strell, »und statt sie noch länger in Finsters Schule verrotten zu lassen, habe ich Vater bekniet, damit er mir erlaubt, mich um sie zu kümmern, während ich herumreise, um neues Material zu sammeln. Sie war an dieser Schule, seit sie dreizehn war. Offensichtlich hat die Verbannung nichts genützt, aber wir hatten gehofft, wenn sie selbst erfährt, wie hart und jämmerlich das Leben sein kann, würde sie sich vielleicht doch mit einer Ehe abfinden. Außerdem« – er grinste – »war das billiger, als sie weiterhin in dieser Zelle von einer Schule einzusperren. Und jetzt habe ich sie am Hals!« Strell klopfte ihr fröhlich auf den Rücken und tat so, als bemerke er ihre finstere Miene nicht. »Das mit diesem grauenhaften Akzent ist wirklich ein Jammer«, sagte er. »Ich glaube ja, dass sie sich den aus purem Trotz zugelegt hat. Wenn ihr Vogel nicht gewesen wäre, glaube ich, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, sie zu retten.«
»Vogel?«, fragte Bailic nervös. »Was für ein Vogel?«
Strell zögerte. Alissa verstand seine Verwirrung. Kralle verhielt sich überraschend still und war offenbar
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