Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
größeres Stück Sternenhimmel von einem dunklen Schatten verschluckt wurde. Es war Talo-Toecan, der lautlos über die Feste segelte und am Waldrand landete. Kralle schwebte über ihm und sah neben der gewaltigen Gestalt aus wie eine Mücke, bis sie schließlich in den Bäumen landete. Die Silhouette des Rakus hob sich auch aus der Ferne deutlich gegen den Schnee ab. Seine riesigen Augen schienen das Licht des unsichtbaren Mondes zu reflektieren. Strell erschauerte, als der Meister den Blick auf die Feste richtete. Vogel und Raku hielten schweigend Wache.
Strell wurde heiß. Dass er sich in Alissas Schlafgemach aufhielt, war höchst unanständig, noch dazu so spät in der Nacht. Er sagte sich, dass seine Absichten vollkommen ehrenhaft waren, schloss die Fensterläden und verriegelte sie. Er kehrte zu ihr zurück und sah, dass sie in ihrem Sessel vor dem Kamin wieder tief und fest schlief. »Schlaf gut, meine Liebste«, flüsterte er, doch er wagte es nicht, sie zu berühren, solange Talo-Toecan so nahe war. »Du hast stärkere Beschützer als mich.« Einen Moment lang betrachtete er sie, als würde er sie nie wiedersehen. Schließlich wandte er sich ab und verließ ihr Zimmer, die Decke um sich geschlungen, niedergedrückt von Traurigkeit.
Wenn er nicht mehr gebraucht wurde, würde er gehen.
– 19 –
A uf Wiedersehen, Papa«, flüsterte Alissa. Sie wandte sich ab; Tränen standen ihr in den Augen, doch sie waren noch zu sehr ein Teil von ihr, um tatsächlich zu fallen. Mit schweren Schritten entfernte sie sich von dem Haufen Gestein am Fuß des Turms, mit Eis und Dornenranken bedeckt, der das Grab ihres Papas markierte. Bailic hatte den Schutt des herabgestürzten Balkons nie fortgeräumt. Ihr Papa lag darunter. Der Schnee fiel dicht und würde bald verbergen, dass sie hier gewesen war. Bailic würde es nie erfahren; das war ihr auch lieber so.
Sie zog ihren Mantel am Hals enger zusammen und spähte zum Turm empor, der im diffusen Licht grau über ihr aufragte. Eisige Nadelstiche schmolzen zu kalten Tropfen, wo der Schnee auf ihr nach oben gewandtes Gesicht fiel. So spät im Winter war das schwer zu sagen, doch sie glaubte, dass dieses Gewirr kahler Ranken eine wilde Rose sein könnte. Das hätte Papa gefallen, dachte sie und wandte sich ab, um wieder nach drinnen zu gehen.
Selten konnte sie Strell so vollständig entkommen, doch heute war er nach seinem morgendlichen Unterricht schnurstracks hinab in seine Töpferwerkstatt gestürmt. Bailic war besonders grausam und sarkastisch gewesen, und Strell wollte zweifellos seine Frustration an der Töpferscheibe loswerden. Er verhielt sich Bailic gegenüber deutlich vorsichtiger, doch offenbar fiel es Strells unabhängiger Tiefländer-Natur sehr schwer, die Zunge im Zaum zu halten.
Niedergeschlagen, und das nicht nur von ihrem Gefühl traurigen Gedenkens, zog Alissa das schwarze innere Tor der Feste auf und schlüpfte hinein. Kralle landete mit wildem Flügelschlagen und Geschimpfe auf Alissas Schulter. Das war zwar noch schwieriger gewesen, doch Alissa hatte es geschafft, auch ihrem wachsamen Vogel zu entwischen. »Psst«, murmelte sie und ignorierte das unablässige Schimpfen. Kralle kreischte ein letztes Mal empört und flog ins Gebälk, als Alissa die Küche betrat; offenbar war der Vogel überzeugt, dass die Schelte ihre Wirkung getan hatte. Alissa stampfte mit den Füßen auf, um den Schnee von ihren Füßen zu klopfen, und füllte ihre kupferne Teekanne. Sie hängte sie übers Feuer, zu niedergeschlagen, um sich auch noch den Mantel auszuziehen. Sie ließ sich auf einen Schemel sinken, malte mit dem Fuß langsam einen Kreis auf den Boden und wartete darauf, dass das Wasser kochte.
Anscheinend bekümmerte sie Strell in letzter Zeit noch mehr als nur Bailic. Sie glaubte, dass seine düstere Laune an dem Nachmittag begonnen hatte, als sie Lodesh im Stall entdeckt hatte. Obwohl sie sogleich losgelaufen war, um ihn Strell vorzustellen, hatten sie die Stallungen verlassen vorgefunden. Strell war seither nicht mehr derselbe.
Und Lodesh ging ihr aus dem Weg. Er hielt sein Versprechen und ließ sie wissen, wenn er da war, indem er irgendwo eine Eichel hinterließ, wo Alissa sie finden musste. Etwa alle drei Tage fand sie eine, an den seltsamsten Orten: in ihrem Schuh, hinter dem Nudelholz, unter ihrem Fingerhut. Die Stallungen waren jedoch stets leer, wenn sie dort nachsah, und sie hoffte, dass sie nichts Falsches gesagt und den Stadtvogt beleidigt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher