Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Sie liebte Geheimnisse, und anfangs fühlte es sich an wie eine Art stiller Verschwörung, wenn sie eine Eichel fand. Doch nun hatte sie das Spielchen satt und wollte mit jemandem sprechen.
Während Alissa in der warmen, stillen, tröstlichen Küche saß, wünschte sie, sie müsste sich nicht hinter die Gartenmauer hinausschleichen, um das Grab ihres Papas zu besuchen. Es war deprimierend, seiner nur an einem Haufen Schutt gedenken zu können. Da war auch noch sein Bündel, doch das lag im Schrank unter der Treppe in der großen Halle. Die Tür war mit Bannen verriegelt, seit sie hier angekommen waren.
Alissas Fuß hielt inne. Langsam richtete sie sich auf. Strell war an dem Bann vorbeigekommen, indem er die Tür hinter Bailic verklemmt hatte, damit sie nicht wieder zufiel. Vielleicht war die Tür noch immer offen?
Ein hastiger, unauffälliger Blick zur Decke verriet ihr, dass Kralle ihr Gefieder putzte, offenbar überzeugt davon, dass Alissa jetzt nichts Interessantes mehr unternehmen würde, da eine Kanne Wasser über dem Feuer hing. Sehr leise stand Alissa auf und verließ die Küche. Kralle, da war sie sicher, wäre hiermit nicht einverstanden.
Ihr Herz schlug schneller, als sie sich in die große Halle schlich und vor der Tür zum Kabuff unter der Treppe stehen blieb. Sie musterte die schmalen Ritzen in der Wand, und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht, als sie einen grünen Stofffetzen zwischen den Steinen entdeckte. Anscheinend hatte auch Bailic sich nicht mehr um die Tür gekümmert, nachdem Nutzlos entkommen war. Mit einem letzten, verstohlenen Blick zur Küche stemmte Alissa die Tür auf und spähte vorsichtig hinein. Dort, im Staub neben einem Stapel Fackeln, lag das Bündel ihres Papas.
Erfreut, aber auch traurig, schlüpfte Alissa in das Dämmerlicht unter der Treppe und kniete sich vor das Bündel. Sie zupfte an den Knoten, mit denen es verschnürt war, und lief schließlich in den Speisesaal, um sich ein Messer zu holen. Als sie die Knoten durchtrennte, verkrampften sich ihre Finger leicht, und sie riss die Hände zurück. Ihr Papa hatte das Bündel mit einem Bann geschützt. Deshalb hatte Bailic es nicht angerührt. Dann zuckte sie mit den Schultern – ihr Papa würde niemals etwas hervorbringen, das ihr wehtun könnte. Zuversichtlich öffnete sie das Bündel und zog ein vertrautes Paar cremefarbener Stiefel heraus. Mit schwachem Lächeln stellte sie sie beiseite. Kein Wunder, dass ihre Stiefel ihr so viel bedeutet hatten. Das war ihr nicht bewusst gewesen, doch bevor Strell auf dem Weg zur Feste ihre Stiefel mit dieser grässlichen Schmiere braun gefärbt hatte, um sie wasserdicht zu machen, hatten sie genau die gleiche Farbe gehabt wie die Stiefel ihres Papas. Als Nächstes kam eine dicke Decke zum Vorschein. Sie drückte das Gesicht hinein und atmete tief ein. Tränen brannten ihr in den Augen, denn die Decke roch selbst jetzt noch nach zu Hause. Sie atmete tief durch, um nicht weinen zu müssen, legte die Decke beiseite und machte weiter.
Alles in allem enthielt das Bündel einmal Kleidung zum Wechseln – die Sachen sahen der ersten Ausstattung, die sie für Strell genäht hatte, unheimlich ähnlich –, einen Becher und eine Schüssel aus Stein, wie ihr Mörser, ein Stück Seil mit mehreren Knoten und zahlreiche Kleinigkeiten. Das alles war recht typisch und glich ihrem eigenen Bündel. Ganz unten fand sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier, und nachdem sie die Anrede gelesen hatte, steckte sie es traurig in ihre Tasche. Der Brief war für ihre Mutter. Sie saß im Staub und wurde immer trübsinniger, da entdeckte Kralle ihre Herrin.
Fauchend und flatternd wie ein vor Angst wahnsinniges Tier stieß Kralle aus der großen Halle auf sie herab. Alissas Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Kralle! Nein!«, schrie sie und krümmte sich schützend zusammen. Die Krallen ihres Vogels fanden trotzdem unbedeckte Haut, und Alissa schrak aus ihrer fassungslosen Starre auf und stieß den Vogel aus dem Kabuff. Kralle landete rücklings auf dem glatt polierten Boden und krächzte empört, während sie versuchte, sich wieder in die Luft zu erheben. Alissa stürzte zur Tür und zerrte am Griff. Der Lärm ihres wütenden Falken wurde abrupt abgeschnitten, als sich die Tür knirschend schloss.
»Bei den Hunden!«, flüsterte Alissa und starrte auf die Tür, die sie in der plötzlichen Finsternis nicht mehr sehen konnte. Ihr Herz hämmerte, und ihr war schlecht. So etwas hatte Kralle noch nie zuvor
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