Alle lieben Peter
hatte.
»Hänschens unvollendete Werke!« bemerkte die Mama und warf mir gute zwanzig Pfund dieser Kunstwerke herüber.
»Schmeiß sie gleich auf den Altpapierhaufen«, sagte die Gefährtin, die sich neben mir damit abquälte, alte Nägel mit einem Hammer geradezuklopfen.
»Ne, nicht doch«, meinte ich, »vielleicht ist doch das eine oder andere...« Und ich begann mich an einem meiner Romanfragmente festzulesen.
»Du solltest lieber die Geschirrkiste zunageln«, sagte Frauchen, »und was machst du denn da, Mami?«
Die Mama war gerade dabei, einen Karton in eine bereits übervolle Kleiderkiste zu pressen.
»Die Erinnerungsschachtel!« erkärte sie feierlich.
Ich warf mein Fragment bedauernden Blickes auf den Altpapierstapel und half ihr pressen. Aber der Karton wollte absolut nicht hineinpassen.
»Könntest du nicht einiges davon wegschmeißen?« fragte ich sie schließlich.
»Aber ich bitte dich!«
»Zeig mal her — sei nicht albern, ich will ja nur mal nachsehen!« Ich entriß ihr den Karton und machte ihn auf. Es quoll mir entgegen und roch sachte nach Moder und Lavendel: zwei ganz verknautschte Babyschuhe, eine Babyhaube, ein vergilbtes Hemdchen, ein Kuvert mit einer blonden Locke, ein Gipswildschwein zwischen zwei Quarzkristallen: >Erinnerung aus der Sächsischen Schweiz< und das Bild eines jungen Mannes mit Schafsgesicht und Zwicker, der an einer Säule lehnte.
»Bin ich das?« fragte ich entsetzt.
»Natürlich! Das Einsegnungsbild!« sagte sie vorwurfsvoll. »Es war der erste Anzug mit langen Hosen. Erinnerst du dich denn gar nicht?«
Ich klimperte mit den Augen und bemühte mich. Und da kam er wieder herauf, jener Einsegnungsmorgen Anno 1916. Erster Weltkrieg. Hunger und Verarmung der Daheimgebliebenen. Zur Feier dieses Tages hatte ich zwei neue Schuhe bekommen, mit Holzsohle, und zwar von der allerschlimmsten Sorte: aus einem Stück gearbeitet. Als ich vor dem Geistlichen niederknien wollte und zu diesem Behufe erst das eine Knie beugte, brach mit Getöse die Holzsohle. Ich blieb erstarrt in dieser Stellung wie ein Auto mit Reifenpanne und fühlte mehrere hundert Augen gespannt auf mich gerichtet: Was wird er jetzt machen? Nach einer halben Minute räusperte sich der Geistliche, und mit Todesverachtung bog ich auch das zweite Knie. — Krach, brach auch die zweite Sohle durch. Der Schweiß tropfte mir von der Stirn, ich war puterrot, kriegte meinen Segen und schlich mich weg wie ein geprügelter Hund. Ein paar alberne Gänse kicherten, als ich auf meinen Bruchsohlen an ihnen vorbeiknirschte.
Ich wachte auf, als die Mama mir das Bild wegriß und schnell wieder einpackte’. »Dafür wird ja wohl noch Platz sein! Wenn wir mal wieder ein eigenes Heim haben sollten, woran ich allerdings zweifle, denn es wird ja nichts gespart. Es werden ja, kaum daß ein bißchen Geld da ist, tausend Leute eingeladen und Autos und Mäntel gekauft und alles zum Schornstein hinausgejagt.«
»Pack nur alles in die Kiste, was du willst, Mamachen«, sagte ich hastig. Die Mama jedoch schien entschlossen, noch eine ganze Menge zum Thema >Spare in der Zeit< zu sagen. Glücklicherweise erschien in diesem Augenblick Weffi, sein Bällchen im Maul. Er richtete sich an der Kleiderkiste auf, ließ den Ball hineinfallen, sprang dann nach, roch mit angewidertem Gesicht an den Mottenkugeln, rollte sich aber trotzdem auf den Kleidern zusammen: »Vergeßt mich nicht!«
Einen Moment sahen wir uns alle schweigend an. Da saßen wir zwischen unseren Kisten mit staubigen Händen und Gesichtern, mit Hämmern in den Händen. Die Mama richtete sich ächzend auf: »Ich hole mir jetzt einen Cognac.«
»Mir auch!« sagte Frauchen.
»Mir auch!« sagte ich. »Weffi, geh da ‘raus, du kommst ja mit.« Als ich den Cognac ‘runter hatte, erklärte ich, ich müßte mal in die Garage. In der Diele sah ich ein Stück Cocki unter der Kommode Vorschauen: die dicken Tatzen mit dem Kopf darauf. Er folgte mir nicht in den Garten wie sonst, hob nicht einmal den Kopf, als ich vorüberging. Nur seine blutunterlaufenen traurigen Säuferaugen folgten mir, als wolle er sagen: »Ich kann leider nicht mit, sonst klaut man mir die Kommode!«
Auf den Stufen vor dem Haus saß Mathilde. Sie hatte Peter auf dem Schoß, mit den Beinen nach oben wie einen Säugling, flüsterte mit ihm und heulte. Als ich kam, stand sie schnell auf und setzte ihn auf die Erde: »Die Bohnen — ich habe ja die Bohnen auf dem Feuer.«
Sie wischte sich mit der Schürze über die
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