Alle Tage: Roman (German Edition)
Mit der Hand, in der sie nichts hält, angelt sie noch immer in der Luft, und plötzlich ist da auch etwas, eine andere Hand, sie hält sich an ihr fest, am letzten Haken vor der Ohnmacht. Der Storch hat sie in den Knöchel gezwickt, nein, ein Auto hat ihr den Knöchel zertrümmert, so was kann sehr schmerzhaft sein, aber erst spürt man es oft gar nicht, das ist der Schock, die Erschütterung. Du denkst, sie haben die Bombe geworfen, erzählte sie später, irgendwie passt alles zusammen: Flammen, Wasserfontänen, berstende Scheiben, Blaulichter, Geschrei – der Fahrer schrie immer noch, raufte sich die Haare, drehte sich im Kreis, die Polizisten näherten sich ihm mit ausgebreiteten Armen, als wollten sie ein Huhn einfangen –, alles, als würde gerade eine große Katastrophe passieren. Eben noch ging ich mit einem Blumenstrauß auf Krankenbesuch und plötzlich stürzt die Welt ein, und man sitzt in Trümmern auf einer kleinen Insel zwischen den Schaulustigen und wird fotografiert.
Das Blitzlicht einer kleinen automatischen Kamera, die ein Passant betätigte, fuhr ihr direkt ins Auge. Sie kam zu sich, sah, was los war, sah sich halb unter einer surrenden Maschine sitzen, die sie stinkend und warm anhauchte. Mit der linken Hand hielt sie sich fest an jemanden geklammert. Sie sah hin.
Ach, Sie sind das, sagte sie und dann nichts mehr.
Abel
Das letzte Mal haben sie sich vor drei oder vier Monaten gesehen. Es war ein Sonntag, sie, Freunde, Familie, nahmen an einer Demonstration für mehr Toleranz teil, Omar enthusiastisch, Mercedes wie nicht anwesend. Die Diagnose stand seit vier Wochen fest, und sie konnte, so sehr sie sich auch bemühte, kaum an etwas anderes denken. Tibor wird sterben, Tibor wird sterben, Tibor wird …
Abel seinerseits hatte gerade einen längeren Lauf hinter sich. Er war einem gewissen Danko oder dem Laptop unter dessen Arm hinterhergerannt, bis er sich in einem Hunderudel verfing und stürzte. Später, als er seinen Weg nach Hause suchte, fand er sich auf einmal zwischen all diesen Menschen und ihren Transparenten wieder, begriff erst gar nicht, was das war, nur dass sie ihn am Fortkommen hinderten, als plötzlich:
Abel! rief Omar. Du bist auch hier?! Abel ist hier!
Tatsächlich, sagte Mercedes. (Tibor wird sterben.) Guten Tag.
Omar trug einen blauen Luftballon, Abel sagte, er könne leider nicht länger bleiben, er müsse… sage: zum Bahnhof.
Aber der ist doch da lang!
Tatsächlich, sagte Abel heiter, hätte ich mich doch fast verlaufen.
Wie ist das möglich, fragte Omar hinterher seine Mutter. Ich werde ihn in der nächsten Stunde fragen.
Dazu kam es nicht mehr.
Mein Russischlehrer ist verschwunden, sagte Omar einige Tage später. Umsonst habe ich dieses Dutzend Fragen für ihn vorbereitet. Wo ist er? Das ist nicht seine Art!
Mercedes (Tibor wird sterben, Tibor wird…) rief die hinterlassene Nummer an. Eine Fleischerei. Pardon.
Tut mir Leid Schatz, (Tibor wird…) ich weiß es auch nicht.
Wir wissen es nicht, sagten auch die Musiker, als sie nach der abgebrochenen Tour nach Kingania zurückkehrten. Sie waren viel zu früh dran und einigermaßen erschrocken, denn als sie hereinkamen, war sie schon da.
Sie heulte. Das Lager war absolut demütigend , am Ende endete sie, nach einem Umweg über die Küche, wo sie sich über die unterentwickelte Würzkunst lustig machte – Das ist ein Ferienlager für Kinder, Madame! Sie nannte mich: Madame! –, im Putzdienst, aber das machte sie nicht mehr mit, sie haute ab, buchstäblich mitten in der Nacht, sechs Kilometer zu Fuß zum nächsten Bahnhof, zähneknirschend ging ich unter den Sternen. Sie hat sich nicht einmal das Geld auszahlen lassen. Und jetzt das.
Was ist passiert? Wieso seid ihr schon da? Wo ist das Kind? Was ist das für eine Verletzung an deiner Schulter? Was habt ihr getan? Hat er das getan? Warum? Was habt ihr mit ihm…?
Nein, sagte Andre. Das war nicht er.
Wir haben nichts mit ihm gemacht, sagte Kontra. Er ist einfach ausgestiegen.
Ich weiß, sagte Kinga zu Janda, der auffällig schweigsam war, ich weiß, dass du was damit zu tun hast. Du bist es.
Sie fing immer wieder damit an. Du bist es, ich weiß es, du, du, du! Aber diesmal ließ er sich nicht provozieren. Er hatte es versprochen.
Sei vernünftig, sagte Kontra zu Andre, der erst winselte und später hysterisch wurde. Du kannst jetzt nicht so weit fahren, allein. Warte wenigstens, bis die Wunde verheilt ist.
Noch ein Ding, sagte Andre und zitterte am ganzen
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