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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terézia Mora
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Regierung, der Bürokratie, der Eucharistie, kurz: dem Staat, diesem unnützen und gefährlichen Spielzeug! stand sinngemäß auf dem Karton. Es lebe die Natur, das Individuum, die Freiheit, der Gedanke, die Schönheit und die Freude! Es lebe: der Mensch! –«

    Nach dem enttäuschenden Sommer, dem Auszug des Kindes und einigen anschließenden unseriösen Versuchen mit jüngeren Lovern, kam Kinga zum Schluss, es würde nun allmählich Zeit, etwas Vernünftiges mit ihrem Leben anzufangen, und schrieb endlich die vermaledeite Geschichte ihres Großvaters, des Anarchisten, auf. Die erste Fassung wurde zu kurz, nur vier Seiten, sie überarbeitete sie und schickte sie an eine Zeitschrift.
    Abgesehen von den Orthographiefehlern, schreiben mir die Fettsäcke zurück, habe sie die Geschichte leider nicht überzeugen können. Nicht packen . Was heißt hier: nicht packen?! Zu subtil, oder was? Das Einzige, was euch zu packen in der Lage ist, ist doch höchstens eine kräftige Hand: an den Eiern ! Uns hingegen erschüttert alles! Neulich ging ich auf der Straße, und plötzlich roch es nach Platanen und nach Essen, wie vor der Kantine der Fabrik, und ich war gleichzeitig glücklich und zu Tode deprimiert. Aber so etwas ist ja nicht sexy genug! Zu weit von unserer Erlebniswelt entfernt. Oh, ihr armseligen Pisser!
    Auf die neuerliche Enttäuschung trank sie sehr viel. Taumelte tagelang weinend durch die Straßen, bis sie sich eines Nachmittags in einer Pfütze erblickte. Die Pfütze hatte sich in einer Kuhle in ihrem Hof gesammelt. Auf dem Grund der Kuhle war ein Riss im Asphalt, der sah aus wie das Auge Gottes. Ich sah mich in den Augen Gottes, eine haltlose Kreatur, da fiel ich auf die Knie, das krachte ganz gruselig, und heulte wie eine Wölfin. Als sie sich ausgeheult hatte und wieder etwas nüchterner war, riss sie sich zusammen, wusch sich, kämmte sich, benahm sich wieder wie ein Mensch.
    Aber schon kurze Zeit später, zwei, maximal drei Wochen, fing es wieder an. Oh, wie vermisse ich die Berge! Stand stundenlang am Fenster und seufzte. Mit ihren fettigen Fingern malte sie Bergkämme auf die Fensterscheibe. Wenn die Sonne herumgewandert kam, glänzten sie silbern auf. Oh, sagte Andre, Segelschiffe. Oder so, sagte sie.
    Meistens allerdings war sie zu unruhig, um auf einer Stelle zu stehen und Berge oder Segelschiffe zu malen. Ich bin unruhig! rief sie und lief stundenlang auf und ab, den nicht besonders breiten Pfad entlang, der zwischen den Hügeln der Unordnung geblieben war. Seitdem es chez Kinga kaum mehr Partys gab, drifteten immer mehr Sachen von den Rändern ins Zentrum. Mit der Zeit hatte es sich mit den Zusammenkünften zerschlagen und scheinbar tat es keinem besonders Leid darum. Für eine Weile war es schön, so zu tun, als wären es immer noch die Achtziger und wir die angesagtesten Typen in unserer Kleinstadt, aber irgendwann ist es eben vorbei, wie Janda sagte, und auch Kinga schien ihrem Salon nicht nachzuweinen. Sie weinte überhaupt nicht. Sie lief auf und ab. Wenn ihr etwas im Weg lag, trat sie es beiseite, mit nackten Füßen, schwarz wie Kohle, und marschierte weiter. Mittlerweile war wieder Frühling. Die Sonne scheint, die Natur erblüht, nur ich werde einfach nicht fröhlicher. Warum, warum nur? Sie murmelte. Alles geht abwärts. Alles geht abwärts.
    Die Musiker, wenn sie da waren, saßen im Raum verteilt, wie in alten Zeiten. Kontra bastelte geduldig an einer Tüte, Andre tat etwas Nützliches, pflegte die Instrumente, Janda las Zeitung.
    In K. bekennen sich nur noch 0,9 % zum orthodoxen Glauben, las Janda.
    Andre: Aha?
    Kontra leckte am Klebestreifen des Zigarettenpapiers.
    Alles geht abwärts, murmelte Kinga. Alles geht abwärts. Alles geht abwärts.
    Sie haben den Typen, der den Che umgebracht hat, zum Botschafter ernannt.
    Andre: Hm.
    Ssssst. Kontra zündete ein Streichholz an.
    Abwärts, abwärts, abwärts.
    Dusko T. –
    Andre: Das Schwein …
    – ist in elf von einunddreißig Anklagepunkten für schuldig befunden worden.
    Alles geht abwärts, alles geht abwärts, alles geht abwärts.
    Janda: Jetzt hör schon auf damit.
    Alles geht abwärts. Alles geht abwärts, alles geht…
    Kinga, bitte …
    … abwärts. Alles …
    Janda schlug die Zeitung zusammen: KANNST DU NICHT AUFHÖREN DAMIT?!?
    SAG MIR NICHT, WAS ICH TUN SOLL!
    Scht. (Das war natürlich Andre.)
    Das hör’ ich jetzt schon… Ich weiß nicht wie lange. Tage, Wochen, Monate? Ich kann’s nicht mehr hören.
    Ich kann nichts dafür!

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