Alle Tage: Roman (German Edition)
Verzeihung.
Wohin? Frau mittleren Alters, gerunzelte Augenbrauen.
Er sagte den Namen der Station.
Rote Linie, sagte die Frau und zeigte im Weitergehen, wo.
Danke, sagte Abel zu niemandem mehr. Die Türen schlugen zu.
Während der Fahrt hielt er den Blick auf den Plan über der Tür geheftet, als ob man dem Zug helfen könnte, auf Linie zu bleiben, die rote, die rote. Es dauerte lange, sein Rucksack zur falschen Zeit am falschen Ort im Gedränge, er wurde von den Festhaltemöglichkeiten weggeschwemmt, aber das machte, was die Standfestigkeit anbelangte, keinen großen Unterschied: die anderen Körper drückten sich gegen seinen, hielten ihn in ihrer Mitte. Geredet wurde auch, die Scheiben beschlugen. Ich bin durch die Stadt gefahren, ohne auch nur das Geringste von ihr zu sehen. Im Morgengrauen in einen Tunnel gefahren, bei hellem Sonnenschein wieder heraus gekommen, irgendwo an einem anderen Ende.
Der Mann hieß Tibor, er hatte eine Professur an einer der hiesigen Universitäten. Was Mira mit ihm zu schaffen gehabt haben soll, keine Ahnung, vielleicht gar nichts, eine Notiz auf dem Nachbarschreibtisch, oder der Wind hatte ihr einen Artikel zwischen die Füße geweht. Ein ferner Sohn unserer Stadt.
Ich bin Anna, seine Frau. Heute, hier, der erste fröhliche Mensch. Nahezu ekstatische Stimme, kleine Jauchzer an den Wortenden: Wir haben Sie schon erwartet! Lassen Sie das Gepäck im Flur! Die erste Tür links! Sie tänzelte vor ihm her.
Das Arbeitszimmer meines Mannes : wie man es sich vorstellt. Die spartanische Variante. An drei von vier Wänden Bücherregale, ein Tisch, ein zweiter Tisch, an dem sie sitzen werden, ein Fenster, dahinter etwas Grünes. Tibor hat ein knochiges Gesicht, eine Haut, als wäre sie windgegerbt, dabei sitzt er sicher die meiste Zeit an einem dieser Tische. Die gelblichen Oberlider fallbereite Vorhänge über den Augen. Die Stimme heiser von Tabak und wie nach tiefem Schlaf. Spricht alles zögernd aus. Nah am Verstummen. Vor jeder Frage eine Pause.
Pause.
Sie kommen also aus S. Wie alt sind Sie?
Neunzehn.
Pause. Eine Zigarette wurde angezündet. Gelbe, derbe Fingernägel. Als würde er mit den Händen arbeiten.
Als ich wegging, war ich noch jünger als Sie. Seit fast fünfzig Jahren nicht mehr da gewesen. Irgendwie kam immer was dazwischen.
Hier lächelte Tibor das erste Mal. Die nächste Frage wollte er gar nicht stellen, stellte sie doch:
Wie ist es jetzt dort?
Abel wollte nicht mit den Achseln zucken, aber dann.
Verstehe, sagte Tibor. Wieder das Lächeln.
Und ein weiteres in der Tür. Ein fünfzigjähriges, graublondes Mädchen mit einem Tablett.
Sie haben doch sicher Hunger?!
Abel wusste es nicht genau.
Versuchen wir es mit Kaffee und Gebäck, jubilierte Anna und schob das Tablett auf den Tisch. Tibor wartete geduldig, bis sie den Raum verlassen hatte – auf Zehenspitzen, Vorsicht und Anmut, selbst ihr feiner Rücken lächelt –, und fragte dann:
Sind Sie religiös?
Warum ausgerechnet diese Frage zu den Buttersemmeln?
Abel sah sich um, sah aber nichts, das ihm geholfen hätte. Er biss in die Semmel, nahm einen Schluck von der schwarzen Suppe, schluckte und sagte schließlich:
Manchmal bin ich von Liebe und Hingabe ganz erfüllt …
Pause. Tibor lächelte. Die Lidvorhänge hoben und senkten sich. Er nickte:
Ich auch nicht. Wir sind nicht erlöst. Was gibt es daran zu deuteln.
Abel drehte, so leise wie möglich, den Bissen in seiner Mundhöhle um. Er hatte es vorher schon zu ahnen begonnen, aber nun war es definitiv: Irgendwas stimmte nicht mit seinem Geschmackssinn. Alles schmeckte wie eine kalkige Tapete. Der Kaffee wie zu heißes Wasser, bei dem Zuckerwürfel, den er extra in den Mund nahm, war etwas da , aber es blieb diffus, er hätte nicht sagen können, dass das süß war. Tibor streifte die letzte Asche von der Zigarette.
Was er vorhabe? Hier? Kreisrunde Bewegung mit der Kippe.
Schultern. Sieht sich abermals um. Sieht sich das Hier an. Eine Menge Bücher. Mira hat Andors Sachen verscherbelt, bis aufs letzte Taschentuch, auch die Bücher, an das Antiquariat in der St.-Georg-Straße, man hätte sie später zurückkaufen und bei Ilia im Bettkasten verstecken können, aber Abel erinnerte sich nicht mehr, welche es waren - - - Man könnte auch gut hier bleiben. Sich auf den Teppich vor den Regalen legen und sich nach und nach hübsch durch diese Bibliothek lesen. Einige Zeit würde das bestimmt in Anspruch nehmen. Der Mann, der in einer Bibliothek
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