Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
aus. »Mes compliments au chef!«
Wenn es dekadent war, sich in aller Öffentlichkeit den Bauch vollzuschlagen, dann waren wir dekadent. Und doch auch wieder bürgerlich genug, um uns danach auf einem regulären Zeltplatz anzusiedeln, der am Stadtrand lag.
Für die Fußballfans unter den Gästen hatte man draußen einen Fernseher aufgestellt, vor dem sich pünktlich zum Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich viel Volk versammelte, darunter ein stimmgewaltiger Block von Franzosen, und da packte auch mich das WM -Fieber. Die ersten Torszenen folgten einander fast im Zweiminutentakt. Laut heulten die Franzosen auf, als Deutschland durch einen blitzsauberen Schuß von Pierre Littbarski in Führung ging, aber schon zehn Minuten später verwandelte Michel Platini einen Strafstoß, und das Spiel wogte wie sturmgepeitscht hin und her, bis Deutschlands Torwart Harald Schumacher in der zweiten Halbzeit einen frei auf ihn zugaloppierenden Franzmann durch ein brutales Foul von den Beinen holte. Einfach in ihn reingesprungen war er, aus vollem Lauf.
Patrick Battiston. Der lag bewußtlos auf dem Kreuz, mit Sanitätern um sich rum, während Schumacher so tat, als gehe ihn das gar nichts an. Die französischen Camper tobten vor Wut und hätten ihn am liebsten aufgeknüpft.
Nachdem der kampfunfähige Battiston vom Schlachtfeld getragen worden war, verpatzten beide Teams die denkbar größten Torchancen. Noch in den letzten Spielsekunden hätten die Franzosen alles klarmachen können, brachten’s aber nur zu einem Lattenknaller.
Verlängerung. Jetzt kam es auf die Eigenschaften an, die man an uns fürchtete: Spannkraft, Zunder, Biß und Mumm. In diesen Kategorien waren wir mit Panzerschränken wie Paul Breitner, Horst Hrubesch und Hans-Peter Briegel vorzüglich bestückt.
Doch knapp zehn Minuten später stand es 3:1 für Frankreich, und der Troß der Froschfresser schwelgte in unbändigem Entzücken, das allerdings in Beklommenheit umschlug, als dem eingewechselten Karl-Heinz Rummenigge in der 103. Minute der Anschlußtreffer glückte, und fünf Minuten darauf in blankes Entsetzen über Klaus Fischers prachtvollen Fallrückzieher, der zum Ausgleich führte.
Schlußpfiff. Und Elfmeterschießen! Hermann war schön dumm, daß er das verschlief.
Beim Stand von 3:2 Elfmetertoren für Frankreich trat Uli Stielike für Deutschland an – und verschoß. Und brach zusammen. Und krümmte sich und preßte sich die Hände auf den Kopf und versuchte sich irgendwie mit der Stirn voran in den Rasen im Strafraum zu bohren.
Das mußte aber auch schrecklich sein! Von Jugend auf trainieren, sich eine Karriere als Profi erträumen, Profi werden, von der Nationalmannschaft träumen, Nationalspieler werden, von der WM träumen, bei einer WM spielen, vom Weltmeistertitel träumen, ins Halbfinale vorstoßen, in der Verlängerung zwei Tore Rückstand wettmachen, beim Elferschießen anlaufen, dem höchsten, fast schon zum Greifen nahegerückten Lohn aller Mühen noch einmal einen Riesenschritt näherkommen wollen und dann, wenige Meter vor der Schwelle der Ruhmeshalle, schmachvoll versagen – dem Ball hinterherblicken, wie er auf die Arme des Torwarts zufliegt – eine Achtelsekunde lang vielleicht noch auf eine optische Täuschung hoffen, auf einen Sehfehler, eine Fata Morgana – eine Wahnvorstellung – ein Blendwerk der Hölle – und zugleich schon fühlen, wie einem das Herz in die Hose fällt – wie ein einziger mißlungener Schuß die Arbeit eines ganzen Lebens entwertet – wie Millionen Deutsche sich die Haare raufen – wie das Bewußtsein der Schande sich unauslöschlich in die Seele brennt –
An Stielikes Stelle hätte auch ich im Erdboden versinken wollen.
Littbarski nahm sich des davonwankenden Pechvogels tröstend an, sah sich um, riß auf einmal jubelnd die Arme hoch und drang mit irgendeiner wahnsinnig guten Nachricht auf ihn ein – was war passiert?
Auch ein Franzose hatte verschossen. Das war im Fernsehen gar nicht live gezeigt worden, weil die Regie sich zu lange auf den Untergang des Hauses Stielike konzentriert hatte.
Littbarski selbst schoß dann das 3:3.
Letzte Runde.
Platini – 4:3.
Und Rummenigge – 4:4.
Gleichstand. Jeder noch einen Elfer.
Ein Franzose namens Bossis holte Anlauf und – Bockschuß! Schumacher hielt!
Dann kam Hrubesch. Deutschlands Geheimwaffe. Kein zweiter Netzer oder Hölzenbein. Kein Juwelier. Kein brasilianischer Ballzauberer. Nein. Nur Hrubesch. Horst. Beiname: »Das
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