Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)
Aberglauben und Idolatrie. Es sieht nur die Heiligen, Gott existiert nicht. Partielle Devotionen, jeder hat seinen bevorzugten Heiligen. Der Kult teilt sich endlos. Jede Frau hat ihre Devotion.»
Abb. 23: Rom, Die neu angelegte Via Nazionale um 1890
Was die Religion betraf und folglich die Beziehungen zwischen dem neuen italienischen Staat und der Kirche, so war für Zola ein langes Gespräch mit Ruggiero Bonghi, einem der wichtigsten Vertreter der katholisch liberalen Richtung, überaus aufschlussreich. Bonghi war Erziehungsminister gewesen und besaß immer noch großen politischen Einfluss, obwohl er jetzt zur Opposition gehörte. Dieser sagte ihm, dass man seit 1870, als Rom Hauptstadt wurde, «keinen Schritt im wahrhaft liberalen Sinne gegen den Klerikalismus» vorwärts getan habe: «Die Geistlichen sind mehr geworden und bleiben die Herren. Dies ist das Ergebnis des fortgesetzten Kompromisses, der Vorsicht der Zivilgesellschaft, das, was geglaubt wird, nicht zu stören (Abb. 24). Ebenso hat man beim neuen Verlauf der Straßen keine Kirche antasten wollen, was die merkwürdigen Kurven in einigen erklärt. Es gibt so viele Kirchen, und davon so wenig nützliche, wo höchstens einmal im Jahr Messe gelesen wird! Aber der Skrupel ist absolut gewesen. Immer nur vermitteln und sich verständigen.» Im Großen und Ganzen, so Bonghi, sei die Bourgeoisie skeptisch, die Frauen und das Volk abergläubisch, und obwohl die Hälfte der Bourgeoisie in der Tradition Mazzinis und Garibaldis atheistisch und republikanisch sei, habe sie dennoch keinen entscheidenden politischen Einfluss. Das eklatanteste Beispiel für diese unterirdische, katholische Strömung des in Italien herrschenden liberalen Regimes war die Unmöglichkeit, im Parlament eine Mehrheit für ein staatliches Ehescheidungsgesetz zu finden. Das von Bonghi Gesagte wurde Zola auch von Attilio Luzzatto, dem Direktor der Tribuna , der damals wichtigsten italienischen Zeitung, bestätigt. Luzzatto war Jude und stand politisch auf der Gegenseite von Bonghi, der zum rechten Lager gehörte, teilte aber dessen harsches Urteil über den in Rom weithin verbreiteten Klerikalismus. Auch er war der Meinung, dass die Römer zur Hälfte überzeugte Parteigänger des Papsttums seien, «vor allem diejenigen, die von ihm lebten, die seine Klienten waren, die im Sold der monsignori , der Prälaten, standen, wie auch die Familien, die von den Geistlichen lebten (und mehr noch die Bourgeoisie). Wenig Bourgeoisie überdies zwischen Fürsten und Volk. Dennoch eine sehr hohe Zahl päpstlicher Bourgeoisie. Der ganze Adel für den Papst. Ist überdies noch reich.»
Abb. 24: Rom, Fassade des Quirinalspalasts, Residenz des Königs von Italien
Die Rede kam unweigerlich auch auf das Papsttum und den herrschenden Papst, Leo XIII. Zola, der hier seine ganze schriftstellerische Kunst beweist, beschreibt mit knappen Strichen dessen physische Erscheinung: «Eine Wachsfigur, durchsichtige Blässe, eine von innen beleuchtete Alabasterlampe. Eine große Nase, die seine Physiognomie akzentuiert. Die Augen extrem schwarz, zwei Karfunkel, die alles beleben. Flammenaugen, die zwanzig Jahre alt sind. Eine eigenartige Jugend im Blick. Ein Intellektueller, kein Sentimentaler. Sehr einfach.» Er hatte ihn nur von weitem bei einer religiösen Zeremonie gesehen, aber das reichte ihm, um sein Bild skizzieren zu können. Kein Wort verliert Zola dagegen über die berühmte Enzyklika Rerum novarum , die Leo XIII. 1891 verkündigt hatte. Sie nahm zum ersten Mal aus katholischer Sicht Stellung zur sozialen Frage – der Arbeiter vor allem – und wurde zum Bezugspunkt für die katholischen Sozialbewegungen des 20. Jahrhunderts, nicht nur in Italien. Vielleicht aber erwähnt Zola sie nicht, um sich dafür zu rächen, dass der Papst sich geweigert hatte, ihn zu empfangen. Sehr interessierten ihn auch die Kardinäle, über die er viele Erkundigungen einzog. Er kam zu der Erkenntnis, dass ihre gesellschaftliche Stellung im Gegensatz zur Vergangenheit eine Dekadenz erlebt hatte. Der Grund dafür war die drastische Verminderung ihrer Einkünfte, die ihnen nicht mehr den Luxus erlaubten, den diese Kirchenfürsten jahrhundertelang entfaltet hatten. Keine Paläste mehr, sondern nur bescheidene Wohnungen, eine Kutsche mit zwei Pferden und ein Sekretär – das war alles, was ihnen geblieben war. Noch schlechter war die Lage des Klerus. Die Priester Roms waren «armselig, schmutzig, schäbig, ignorant. Eine
Weitere Kostenlose Bücher