Alles Ist Ewig
den Dächern. Wie viele davon waren wohl noch mit Wasser gefüllt?, fragte sie sich. Und wie viele bargen ganz andere Geheimnisse?
»Je näher wir dem Himmelreich sind, desto leichter fällt es der Seele, auf Reisen zu gehen«, erklärte Phoebe. Sie deutete nach oben zum Himmel, wo die Sterne sich zu ihren gewohnten Bildern gruppierten.
Das leere Innere des Turms hatte einen Durchmesser von etwa dreieinhalb Metern. Auf dem Boden lag eine Strohmatte, und in der Mitte war eine Feuerstelle eingelassen, deren glühende Kohlen den Raum erhellten. Direkt neben dem Feuer stand ein mit Holz gefüllter Weidenkorb. Die Hitze in der kleinen Kammer umfing Haven, bedrängte sie. Sie holte mühevoll Luft und zog sich hastig ihren dicken Winterpullover über den Kopf.
Phoebe zog die Schuhe aus und sank dann routiniert wie eine Geisha auf die Fersen hinunter. Die Hitze schien ihr nicht mehr auszumachen als vorher die Kälte.
»Bitte, setzt euch zu mir ans Feuer«, forderte sie die beiden auf.
Haven und Iain setzten sich im Schneidersitz auf den Boden. Phoebe nahm ein paar Zweige aus dem Weidenkorb und warf sie in die Flammen. Sogleich schlug Haven eine Welle von Hitze ins Gesicht. Ihre Augen wurden trocken, und sie blinzelte wie wild, während sich ein intensiver Duft im Raum ausbreitete. Es war eine Mischung aus Geißblatt, Knetgummi, frischgemähtem Gras, Sägemehl und anderen Gerüchen aus Havens Kindheit. Milchig weißer Rauch schlängelte sich nach oben und verschwand durch ein Loch in der gewölbten Decke über ihnen.
»Würden Sie das hier bitte aufsetzen, Mr Morrow?« Phoebe reichte Iain einen weißen Chirurgenmundschutz.
»Sie verbrennen diese Pflanzen, die wir unten gesehen haben, nicht wahr?«, fragte Iain. »Ist der Rauch giftig?«
»Der Mundschutz soll Sie nur vor dem Geruch schützen. Der Geruchssinn und das Gedächtnis arbeiten eng zusammen. Die Aromen, die diese Pflanzen verströmen, können tief vergrabene Erinnerungen wecken. Sie und ich müssen hierbleiben, während Haven ihre Reise in die Vergangenheit macht. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Ich führe dieses Ritual schon durch, seit die alten Griechen es perfektioniert haben.« Phoebe zog sich ebenfalls einen Mundschutz über Mund und Nase. »So«, sagte sie dann, ihre Stimme durch den Stoff gedämpft, »in welches Leben möchtest du heute reisen, Haven?«
»In das Leben von Beatrice Vettori«, erwiderte Haven. »Der Name ihres Bruders war Piero. Sie haben in Florenz gelebt, in Italien, Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Ich muss ins Jahr 1347 und einen Freund von Piero sehen. Sein Name war Naddo.«
»Kanntest du diesen Naddo gut?«
»Ich glaube nicht«, musste Haven gestehen. »Ich hoffe, ich bin ihm überhaupt mal begegnet.«
Phoebe runzelte die Stirn. »Ich fürchte, meine Gabe hat ihre Grenzen. Ich kann dich in das richtige Jahr und an den richtigen Ort bringen. Aber ich kann dir keine speziellen Szenen zeigen, es sei denn, ich habe sie selbst miterlebt. Es ist nicht leicht, einen bestimmten Moment in der Zeit zu lokalisieren. Es kann sein, dass du mehrere Versuche brauchst, bis du den jungen Mann findest, den du suchst. Und ich kann dich in jeder Sitzung immer nur für wenige Minuten in die Vergangenheit blicken lassen. Wenn du heute Abend noch nicht siehst, was du sehen wolltest, musst du in ein paar Tagen noch einmal wiederkommen.«
»Warum kann ich denn nicht einfach im vierzehnten Jahrhundert bleiben, bis ich alles weiß, was ich wissen muss?«, fragte Haven.
»Rückführungen in frühere Leben sind eine große Belastung für Körper und Geist. Wenn du zu lange bleibst, könnte dein Bewusstsein in der Vergangenheit hängen bleiben. Und dein Körper in diesem Leben würde sterben.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass es so gefährlich werden würde«, flüsterte Iain Haven zu. »Bist du sicher, dass du das willst?«
»Ja«, antwortete Haven. »Und ich bin bereit anzufangen.«
»Dann schließ die Augen«, sagte Phoebe.
Haven gehorchte.
»Atme tief ein und konzentrier dich auf meine Stimme. Du bist im Dunkeln, aber deine Seele reist durch Raum und Zeit. Du suchst nach deinem Bruder. Lass dich von dem Duft tragen. Reise immer weiter zurück, zweihundert Jahre, dreihundert, vierhundert. Jede Ära hat ihre eigenen Düfte. Jeder Mensch hat seinen individuellen Geruch. Jetzt näherst du dich dem vierzehnten Jahrhundert. Du riechst die Luft von Florenz …«
Das funktioniert nie im Leben, dachte Haven. Der
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