Alles kam ganz anders
immerhin so viel, daß Sie etwas davon auf die hohe Kante legen könnten. Ist das vielleicht eine Idee?“
„Eine sehr gute sogar“, nickte Simone. „Merkwürdig, daß ich selbst nicht darauf gekommen bin. Ob es mir gelingt, eine solche Arbeit zu finden, weiß ich nicht, aber ich werde alles tun, um es zu schaffen!“
Mama sah aus, als ob ihr auch etwas einfiel. Sie wollte anscheinend etwas sagen, besann sich aber und schwieg.
Es wurde spät, und wir mußten aufbrechen. Mama zauberte eine neue Zahnbürste aus ihren Vorräten im Badezimmerschrank, ich gab Simone einen meiner Schlafanzüge, Handtücher und Frotteelappen, und eine halbe Stunde später lagen wir bequem in unseren sehr praktischen Ausziehbetten.
„Stört es Titine, wenn wir ganz leise sprechen?“ fragte ich.
„Keine Spur. Wenn sie schläft, dann schläft sie! Du möchtest wohl wissen, ob ich weitererzählen kann?“
„Genau das. Ich bin rasend gespannt!“
„Also langweilt dich mein langer Bericht nicht?“
„Langweilt??? Ich möchte alles wissen – ich meine, alles, was du mir erzählen willst!“
„Du darfst gern alles wissen“, sagte Simone. Sie lag auf dem Rücken und starrte vor sich hin. Im Licht der kleinen Nachttischlampe sah ich ihr Gesicht. Es war ruhig, entspannt – beinahe hätte ich ,glücklich’ gesagt.
Dann sprach sie. Sie sprach leise, um ihr schlafendes Kind nicht zu stören.
Simone erzählt weiter
„Wie weit war ich nun gekommen? Ach ja, ich war bei Tante Hedwig. Ja, da blieb ich. Ich wohnte gratis bei ihr, habe ihr nur etwas im Haus und im Garten geholfen.
Das Schlimmste war. meiner Mutter zu schreiben. Ich mußte ihr ja jetzt die Wahrheit sagen und sie bitten, mich von der Schule abzumelden. Arme Mutti! Es war furchtbar hart für sie. Ich bekam ein todtrauriges Briefchen zurück, nicht ganz frei von Vorwürfen, und das kann ich natürlich verstehen. Gleichzeitig schrieb sie Tante Hedwig und bedankte sich sehr herzlich dafür, daß sie sich um mich kleinen Unglücksraben kümmerte.
Ja, das tat Tante Hedwig, in ihrer sehr nüchternen Art. Sie hat wirklich ein großes Herz, aber es würde ihr nie einfallen, mich mal zu umarmen oder mir tröstend die Wange zu streicheln. Sie zeigte ihre Güte durch Taten, nicht mit Worten, und immer ganz unsentimental. Sie fuhr mich zum Frauenarzt, einem lieben, väterlichen Arzt, den Tante Hedwig gut kannte. Er stellte fest, daß alles bei mir in Ordnung war. und das Kind würde voraussichtlich Mitte Januar auf die Welt kommen.
Dann habe ich wieder geheult, und der Arzt tat etwas, das Tante Hedwig nie machte, er streichelte mir die Wange. Ich werde dir was sagen. Kind. Deine Situation ist schlimm, das weiß ich, aber es gibt Schlimmeres. Vor einer halben Stunde mußte ich einer jungen Frau erzählen, daß sie nie Kinder bekommen könnte, und dabei wünscht sie es sich so brennend! Sie ist ein reizender Mensch, würde eine sehr gute Mutter sein, sie ist finanziell gut dran, ihr Mann möchte auch so sehr gern ein Kind – und sie werden nie eins bekommen. Siehst du. kleines Mädchen, das ist noch schlimmer! Na, dann also alles Gute, komm nächsten Monat wieder zur Kontrolle. Und sei froh, daß du eine so liebe Tante hast, die sich um dich kümmert!’
Ja. das tat Tante Hedwig!
Als wir zurückfuhren, war sie schweigsam. Aber am gleichen Abend fing sie an, mit mir zu sprechen, in ihrer klaren, direkten Art.
,Sag mir nun, was du jetzt getan hättest, wenn dies nicht passiert wäre’, fing sie an. Ja, dann erzählte ich ihr, daß ich den Plan gehabt hatte, Simultandolmetscherin zu werden. Mutti meinte, sie würde es schaffen, allein für mich zu sorgen, jedenfalls bis ich das Abitur unter Dach und Fach hätte. Dann sollte ich versuchen, eine Studienhilfe zu kriegen – falls Vati nicht bis dahin eine neue Stellung, das heißt eine gute und einträgliche neue Stellung hätte, so daß er mir helfen könnte. Schlimmstenfalls würde ich versuchen, für ein paar Jahre einen Job zu kriegen und selbst Geld für das Studium zusammenzukratzen. Irgendwie würde es schon gehen.
Tante Hedwig hörte zu und nickte. Dann sagte sie – und den Satz vergesse ich nie: ‚Könntest du dir denken, das Kind zur Adoption freizugeben?’
Ich glaube, ich machte entsetzte Augen, ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Aber Tante Hedwig sprach weiter. Sie erzählte, daß viele Leute sozusagen Schlange stehen, um ein Adoptivkind zu bekommen. Leute wie die Frau, von der der Arzt erzählt
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