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Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur

Titel: Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Misik
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Staraura
     das Publikum teilhaben kann, indem es ihn wählt, das sich als »moderne Wählerschaft« konstituiert, indem es den »modernen
     Politiker« wählt. Dies begründete den Erfolg von Politikern vom Schlage Tony Blairs. Nicht nur Wirtschaft und Kultur verschmelzen
     im Zeichen des Konsumismus, auch Politik und Mode.
    Seine surreale Pointe fand dieser wechselseitige Kollaps von Politik und Konsumismus nach dem 11. September 2001, als der
     New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani die Bürger aufforderte, nun nicht aus Zukunftsangst weniger, sondern mehr zu konsumieren,
     damit nicht auch noch eine ökonomische Krise die politische Krise verschärfe. |117| Im Angesicht der größten politischen Krise seit Jahrzehnten wurde Shopping in den Rang der ersten Bürgerpflicht erhoben –
     zum modernen Dienst am Vaterland.
     
    Shopping against Terror, gewissermaßen.

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    |118| 6. Retro-Chic
    Eine Theorie des Schäbigen oder: Wie es kam, dass Authentizität zu einem Konsumgut wurde, vermarktbar wie jedes andere auch.
    Als Jugendlicher trieb ich mich in den achtziger Jahren häufig in besetzten Häusern herum oder in den großen Gebäudekomplexen,
     die zu dem umfunktioniert worden waren, was man damals autonome Jugendzentren und selbst verwaltete Kulturzentren nannte.
     Oft waren das ehemalige Fabriken oder andere monströse Bauten, meist rund hundert Jahre alt, Architekturdenkmäler aus der
     früheren Zeit der Industriemoderne, die schon deutliche Zeichen fortgeschrittenen Verfalls aufwiesen. Üblicherweise hatten
     die (il legalen ) Besetzer oder (legalen) Nutzer diese Häuser so weit renoviert, dass sie funktional wieder brauchbar und einsturzgefährdete
     Teile zumindest provisorisch gesichert waren, die Zeichen der Zeit jedoch unübersehbar blieben. Das war nicht allein Folge
     notwendiger Pragmatik – für Totalsanierungen fehlte das Geld –, hier wurde eine eigene Ästhetik kreiert, die die Abscheu gegen
     die Verhübschung und die High-Tech-Erneuerung ganzer Stadtviertel zum Ausdruck brachte, ganz zu schweigen von der Verachtung
     gegenüber den schnell hochgezogenen, neuen Wohnsilos in den Trabantenstädten. Mit Hilfe des abblätternden Putzes, der rohen
     Ziegelmauern und der klappernden Holzkastenfenster sollte die Erinnerung an das wahre urbane Leben wachgehalten werden. Es
     entwickelte sich eine Kultur des ostentativ Schäbigen, die ein Kontrast zur Glitzerkultur der Kommerzwelt sein wollte.
    |119|
    Auch die Subkultur ist nur eines von vielen Lifestyle-Milieus.
    Hausprojekt in Berlin, Kastanienallee 86
    Gelegentlich, meist zur weihnachtlichen Einkaufszeit, wurden aus den Fenstern dieser Häuser Transparente gehängt, auf denen
     der »Konsumterror« angeprangert wurde. Wir waren damals davon überzeugt, dass wir Nischen etablierten, auf die die kapitalistische
     Verwertungslogik keinen Zugriff hatte, und mit der Ausweitung dieser Nischen zu Inseln, die sich mit anderen Inseln verbinden
     würden, ein Gegensystem etabliert würde, das exemplarisch und stückweise eine Gesellschaft vorwegnähme, die vom Gift des Kommerz-,
     Markt- und Ausbeutungssystems frei wäre. »Antizipation der Befreiung« wurde das damals genannt.
    Wie ich und meinesgleichen mit einigem Erstaunen bemerkten, war das Heruntergekommene nicht immer der Feind des Kommerziellen.
     Häuser wie das Tacheles in der |120| Berliner Oranienburger Straße hatten den Reiz zerbröselnden Mauerwerkes und aufgerissener Fassaden, hinter denen Künstler
     werkten, und wurden mit der Zeit von Subkultur-Zentren zu magnetischen Anziehungspunkten für Touristen aus der ganzen Welt,
     die den Malern ihre Bilder für Tausende – damals: D-Mark – abkauften. Darüber wurde zwar die Nase gerümpft, aber immerhin
     waren das Tacheles oder ähnliche in die Jahre gekommene Häuser einstmals authentische, widerständische Orte, deren äußeres
     Erscheinungsbild mehr oder weniger unverändert blieb, während sich das Innenleben eben wandelte. Das kann ja vorkommen, so
     ist nun einmal das Leben. Zu unserem Erstaunen statteten aber bald auch kommerzielle Kneipenbetreiber ihre Lokale mit einem
     hohen »Grind- Faktor « (Armin Thurnher) aus, und diese möglichst heruntergekommen und verdreckt aussehenden Kneipen wurden von hippen Teens und
     Twentysomethings regelrecht gestürmt. Noch überraschender und verstörender war allerdings, dass einige Ladenbesitzer in den
     innerstädtischen Shoppingstraßen ihre Geschäftslokale aufwendig renovierten und

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