Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
gebracht, dann zog man mich auf die Füße. Als sich zeigte, daß ich ohne Hilfe stehen konnte – sprechen konnte ich mysteriöserweise immer noch nicht –, geleitete man mich wie ein kleines Kind zu meiner Wohnung.
Obwohl ich die Sprache im Lauf des Abends wiedergewann, war ich zu erschöpft, um mich zu bewegen oder zu essen. Heute bin ich überzeugt, daß der Zusammenbruch mehr psychischen als physischen Ursprungs war. Aber als ich damals versuchte, Hallock, der sich selbst zu meinem Arzt ernannt hatte, davon zu überzeugen, sah ich gleich, daß ihn meine Argumente so wenig beeindruckten wie zuvor mein leidenschaftlicher Auftritt im Anatomiesaal.
Ich blieb mehrere Tage lang zu Hause. Die Abstimmung über die Einrichtung einer Fakultät für Leibeserziehung verzögerte sich um eine Woche. Der Ausgang war keine Überraschung. Und obwohl mich zu dem Zeitpunkt die Angelegenheit kaum noch interessierte, habe ich mich oft gefragt, ob ich nicht überzeugender gewirkt und vielleicht sogar gesiegt hätte, wenn Etna mich nicht verlassen hätte, meine Stimme von einem natürlichen und glaubhaften Enthusiasmus getragen gewesen wäre und ich dort oben auf dem Podium nicht so ein trauriges Bild abgegeben hätte. Dann gäbe es vielleicht heute noch keine Fakultät für Sport und Leibeserziehung am Thrupp College. Eine Überlegung, die mich dazu führt, über die Natur von Schicksal und Zufall nachzudenken: Ein Mann setzt sich eine Minute früher als sonst in sein Automobil, weil er ausnahmsweise seiner Frau keinen Abschiedskuß gibt. Infolge dieser Unterlassung passiert er eine Brücke genau eine Minute, bevor sie einstürzt und alle auf ihr fahrenden Autos samt Insassen mit sich in die stürmisch brodelnde Tiefe reißt. Unser Mann aber setzt wohlbehalten seine Fahrt fort.
Wie im Fieber wartete ich das Ende der Woche ab. Am Samstag mietete ich eine Droschke, um mich nach Exeter fahren zu lassen. Ich meldete meinen Besuch nicht an, weil ich fürchtete, Etna oder ihr Schwager, allem Anschein nach ein unangenehmer Zeitgenosse, könnte ihn verbieten.
Es war möglich, die Fahrt von Thrupp nach Exeter an einem einzigen langen Tag zu bewältigen. Doch die Reise war beschwerlich, da es in diesem Teil des Staates noch keine Überlandstraßen gab und man sich an die kurvigen Fahrwege und gewundenen Dorfstraßen halten mußte. So war ich denn nicht mehr taufrisch, als ich endlich in Exeter eintraf. Obwohl ich es kaum erwarten konnte, Etna zu sehen, behielt ausnahmsweise die Vernunft die Oberhand; ich bat den müden Kutscher, mich zu einer Pension zu bringen.
Ich glaube nicht, daß Exeter sich seit meinem damaligen Aufenthalt wesentlich verändert hat. Es ist ein hübsches Hochschulstädtchen mit vielen schönen Villen in der High und der Water Street. Während die Droschke mich in den Ort hineintrug, versuchte ich zu erraten, in welchem dieser Häuser Etna nun als Gefangene ihr Leben fristete. So nämlich stellte ich sie mir vor – als Dienstbotin, vielleicht sogar Sklavin ihres Schwagers. Hatte ich mir in Thrupp schon vorgenommen, sie der zwar gütigen, aber erdrückenden Obhut ihres Onkels zu entführen, so war ich jetzt doppelt entschlossen, sie aus den Diensten eines Mannes zu befreien, der sie mit List und Tücke um ihr Vermögen gebracht hatte.
Ich verbrachte eine ruhelose Nacht unter dem Dach einer Witwe, die aus finanzieller Not gezwungen war, ihr recht imposantes Haus Fremden zu öffnen. In meiner Zerstreutheit und Hast hatte ich es versäumt, das Notwendige zu packen, und mußte mir von meiner Wirtin unter anderem Rasierzeug und ein sauberes Hemd leihen, was ich zurückzugeben versprach, sobald ich das Ziel meines Besuchs erreicht hätte.
Nach einem etwas seltsamen Abendessen, Rosenkohl und Kartoffeln mit Chutney, zog ich mich in mein Zimmer zurück und saß dort lange in Nachdenken vertieft in einem Sessel. Mir war, wie schon von Anfang an, klar, daß Etna mir nicht die gleichen starken Gefühle entgegenbrachte wie ich ihr. (Hätte ich Etna in Thrupp zurückgelassen? Niemals.) Ich schrieb dieses Ungleichgewicht den körperlichen und gemütsbedingten Unterschieden zwischen Männern und Frauen zu. Ohne Zweifel sind doch Männer stärkerer Leidenschaftlichkeit fähig als Frauen. Müssen sie daher nicht zwangsläufig immer die Jäger sein? Und wohnt nicht der Jagd ein gewisser Reiz inne? Wurde nicht von mir erwartet, daß ich Etna nachstellte, ganz gleich, wohin sie entschwunden war? Ich hatte mir natürlich inzwischen
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