Alles - worum es geht (German Edition)
Tahiti zu heiraten. Über diese Geschichte wurde noch nach Jahren geredet, denn das war immerhin ein richtiger Skandal, auch wenn ich nie verstanden habe, was daran so schlimm war. Aber sie redeten über nichts anderes als darüber, wie jung die Frau und wie alt Onkel Heinrich war und dass er alles mitgenommen hatte, sodass Tante Irmgard und den Kindern nichts geblieben war (was nicht ganz stimmte, aber so wurde es erzählt, auch wenn die Kinder damals längst erwachsen waren und selbst Kinder hatten), bis also Onkel Heinrich starb und sich zeigte, dass er der Zweiundzwanzigjährigen aus Tahiti, die mittlerweile fünfundzwanzig war, nichts als Schulden hinterlassen hatte. Und sie hatte noch immer keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, denn daran hatte Onkel Heinrich nicht gedacht, und nun sollte sie ausgewiesen werden, und für die Familie war es dennoch eine größere Schande, dass die junge Frau auf diese Weise aus dem Land geworfen werden sollte, als dass sie hereingeholt worden war. In dem Sommer legten wir alle zusammen, um ihren Rechtsanwalt zu bezahlen, und schließlich durfte sie bleiben. Ich kann mich nicht an die Einzelheiten erinnern, aber es half sicher, dass ein anderer Onkel, ein weit entfernter, ja, ein Großonkel, den ich nie kennengelernt habe, sie geheiratet hat. So ist meine Familie, man lässt niemanden im Stich. Aber die Bäume, die Blumen, die Vögel, ich kann mich nicht erinnern, dass darüber jemals gesprochen wurde.
Ich habe es nicht mit Absicht getan.
Ich kann es nicht erklären.
Da ist einfach was schiefgelaufen!
Tante Irma wurde von einer Lawine begraben, als ich dreizehn war. Sie war tot, als man sie ausgrub, aber das war nicht weiter erstaunlich, denn sie hatten zwei Tage gebraucht, um sie unter dem Schnee zu finden. Wir waren bei der Beerdigung nicht dabei. Meine Mutter reiste allein dorthin, in Vertretung der Familie, hieß es. Erst später dachte ich daran, wie viel es gekostet hätte, wenn wir zu sechst gefahren wären. Ich habe es nicht gesagt, aber ich war traurig, denn ich mochte meine Tante Irma besonders gern. Sie war geduldig und schimpfte nicht mit mir, weil ich meine Muttersprache nicht richtig konnte. Sie sagte immer nur, dass ich mehr zu essen haben müsste. Dann stellte sie mir eine Portion heiße Suppe hin, und das war’s.
Mein Vater hat nie gesagt, dass er es schade fand, nur uns vier Töchter zu haben, und ich glaube auch nicht, dass es so ist. Nur weil meine Mutter es gern anders gehabt hätte, sagt er dann und wann, dass ein Sohn doch auch schön gewesen wäre.
Ich dachte an Onkel Lorentz, daran, wie er Oma behandelte, und dachte mir mein Teil über den Sohn, den meine Mutter gern statt einer von uns gehabt hätte, und wie der sie herumkommandieren würde, damit sie ihm die Schuhe putzte und die Hemden bügelte und das Haus in Ordnung hielt, das er genauso wie Onkel Lorentz direkt neben ihrem bauen würde, damit sie es leichter hätte, wie Onkel Lorentz sagte. Ich kürzte mir einfach die Haare und den Namen, und schon war ich Mic, die meine Mutter herumkommandierte, damit sie mein Zimmer aufräumte, und niemand konnte begreifen, wie sie eine so ungezogene Tochter wie mich haben konnten. Aber das war erst später. Nachdem wir nicht über die Vögel, die Blumen, die Bäume gesprochen hatten, als wir klein waren, und genauso wenig, als wir größer wurden.
Wir sollten Dänen sein, und deshalb sprachen wir zu Hause nicht die Sprache meiner Eltern, nur Dänisch. Und das geschah dann mit den Wörtern, die alle kannten, denn es war verflixt mühsam, erklären zu müssen, was irgendetwas bedeutete, weil meine Eltern es nicht mochten, wenn wir ihnen etwas erklärten, und immer drei Schwestern bereit waren, ihre Geschichten mit Wörtern zu erzählen, die alle verstehen konnten. Ich bin Nummer drei in der Reihe. Ich habe nie geglaubt, dass es einen Unterschied macht, aber das macht es vielleicht doch, denn Ina und Maria sprechen die Sprache meiner Eltern fließend, weil Oma und Opa den ganzen Sommer lang auf sie aufpassten, als sie klein waren, während auf mich, die vier Jahre später dazukam, Josefine Hansens Mutter aus unserer Straße aufpasste. Wenn ich mich jetzt daran erinnere, fällt mir wieder ein, dass Josefine Hansens Mutter mir tatsächlich manches Mal den Namen eines Vogels nannte oder den einer Blume, sogar eines Baums, aber sie tat es so, als wüsste ich selbstverständlich, was sie damit meinte, genau wie Josefine, dann nickte ich einfach immer mit einer
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