Allmen und der rosa Diamant
beiläufig erwähnt hatte, schützte er unter seiner Windjacke vor dem Regen.
Im Gewächshaus brannte Licht. Don John war in der Bibliothek.
Carlos ging die Treppe hinauf und hängte seine nasse Windjacke an den Kleiderhaken. Jetzt erst merkte er, dass er zitterte.
Er betrat das rechte Mansardenzimmer, das ihm als Wohnzimmer diente. Es bot gerade genug Platz für einen Tisch und einen Stuhl, einen Polstersessel und eine Kommode, auf der ein paar Andenken aus seiner Heimat standen: zwei kleine Mayaköpfe, Imitate von Ausgrabungsfunden, ein geschnitzter Kerzenständer, ein paar bemalte Kürbisgefäße. An der Wand hingen ein mit bunten Vögeln besticktes Stück Stoff und eine hölzerne Maske.
Er legte den Briefkasteninhalt auf den Tisch und sah ihn durch: Quartierzeitungen, politische Werbung, Hauslieferdienst eines Fischgeschäfts, Eröffnung eines Fitnessstudios, Änderung des Müllabfuhrplans, Einführungstarife eines neuen Reinigungsinstituts, Suchanzeige nach einer entlaufenen Schildkröte, Reiseprospekte. Ein paar Briefumschläge waren dabei, aber sie trugen Anschriften wie »An alle Ferienfreunde« oder »Gourmets, aufgepasst!« oder »Herzlichen Glückwunsch!«.
Ein großer Umschlag trug das Signet eines Reisebüros. Jemand hatte von Hand daraufgeschrieben: »Leider niemand zu Hause. Erwarte Ihren Anruf.« Darunter stand eine unleserliche Unterschrift.
Von unten klang jetzt Klaviermusik herauf.
18
Allmen erschrak, als es so spät noch an die Tür klopfte. Seit dem Anschlag auf ihn hatte er sich in der gläsernen Bibliothek nie mehr richtig entspannt gefühlt. Er ließ Carlos schon früh die Vorhänge zuziehen und wechselte immer wieder den Sitzplatz.
Seit der Sache mit dem rosa Diamanten war zu dieser Angespanntheit noch eine andere Nervosität dazugekommen. Eine Art professioneller Alarmbereitschaft. Das Fahndersyndrom, wie er es nannte.
Er hatte heute Abend Mühe gehabt, sich auf seine Lektüre zu konzentrieren. Zuerst las er wieder einmal in Bruce Chatwins In Patagonia. Dann legte er das Buch beiseite und wandte sich dem schmalen Dossier zu, das Carlos aus Internetinformationen über rosa Diamanten zusammengestellt hatte. Er las über die Unregelmäßigkeiten in den Kohlenstoffmolekülen, die in seltenen Fällen einen Diamanten rosa färbten und damit zwanzigmal wertvoller machten als gewöhnliche Diamanten. Doch er fühlte sein sonst so ungeteiltes Interesse für alles Geschriebene gleich welchen Inhalts mit jedem Satz schwinden.
Er setzte sich an seinen Bechstein, dessen Tage bei ihm ohne den Diamantenauftrag gezählt gewesen wären, und pfuschte ein wenig im American Songbook herum, als es klopfte und - bevor Allmen »herein« sagen konnte - Carlos eintrat.
Er kam wortlos auf Allmen zu und überreichte ihm seinen Fund. »Aus Sokolows Briefkasten«, erklärte Carlos feierlich.
Das oberste Blatt war ein Laufzettel mit dem Briefkopf eines Reisebüros. Von den vielen Optionen war »Wie tel. bespr.« angekreuzt. Als Beilage der Prospekt eines Fünfsternehotels in einem schneeweißen Ostseebad in der Mecklenburger Bucht. Es hieß »Le Grand Duc«, nach seinem Gründer, dem Großherzog Friedrich Franz i., und war das älteste Seebad Deutschlands.
An den Rand des Prospekts hatte jemand mit Kugelschreiber ein paar Telefonnotizen gekritzelt. »Ab 10.7.« und »Spätbergstr. 19« und »Sokoloff«.
Carlos hatte ihm von seinem Treffen mit Maria Moreno berichtet, ohne zu erwähnen, dass er sie praktisch angestellt hatte. Allmen wusste von dem Telefongespräch mit dem Reisebüro und dem Koffer, den Sokolow mitgenommen hatte.
»Am zehnten Juli«, stellte er fest. »Ein Tag, nachdem er den Anruf bekam, dass die Engländer den Server mitgenommen hätten.«
Carlos nickte. »Vor mehr als einem Monat.«
»Vielleicht ist er noch dort. Und falls nicht, wissen die vielleicht etwas über seinen neuen Aufenthaltsort. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als vor Ort zu recherchieren.« Sein Seufzer geriet ihm nicht sehr überzeugend.
Carlos schwieg. Aber Allmen wusste, dass ihm der finanzielle Aspekt dieser Geschäftsreise Sorgen machte.
»Wir werden Montgomery um einen zweiten Vorschuss bitten müssen«, fügte er hinzu.
Als Carlos noch immer nichts sagte, stand Allmen auf und ging zum Telefon. »Falls er keine falschen Ausweise oder Kreditkarten besitzt, war er wohl gezwungen, sich unter seinem richtigen Namen einzutragen.« Er wählte die Nummer auf dem Prospekt.
Carlos hörte ihn sagen:
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