Alltag auf arabisch: Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad (German Edition)
stets zwei politische Optionen: den Diktator oder die Moschee. Die meisten übten sich daher in politischer Gleichmütigkeit und widmeten sich dem täglichen Überlebenskampf.
Doch die weltweiten Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel haben diesen Kampf verschärft. Im Schnitt sind die Lebensmittel in Ägypten innerhalb nur eines Jahres bis zum Frühjahr 2008 um fast ein Viertel angestiegen. Mehl und Reis haben sich um die Hälfte verteuert, Speiseöl gar um das Doppelte. Und das in einem Land, in dem vier von zehn Ägyptern mit etwas mehr als einem Euro am Tag auskommen müssen. So klafft die Schere zwischen Billiglöhnen und Lebensmittelpreisen in der Mega-Hartz-IV-Gesellschaft am Nil immer mehr auseinander.
Doch die Leute beginnen sich zu wehren. Mehrere Tage in Folge stand im Frühjahr 2008 die Textilindustriestadt Mahalla im Nildelta, 120 km nördlich von Kairo, Kopf. Dort ist das ausgebrochen, was von der Regierung in Kairo schon lange befürchtet worden war: ein ökonomischer Aufstand.
Die Szenen in Mahalla erinnerten an den Sturz der Saddam-Statue in Bagdad. Eine Gruppe von Jugendlichen riss eine überdimensionale, beleuchtete Plakatwand mit dem Bild des ägyptischen Präsidenten nieder und trampelte Hosni Mubarak in einem kollektiven Tanz auf dem Gesicht herum. Kurz darauf stürmte eine Gruppe der ägyptischen Bereitschaftspolizei herbei. Die anschließende Straßenschlacht erinnerte eher an den Gazastreifen als an die, wie sonst üblich, friedlichen Straßen in Ägypten. Die Jugendlichen warfen Steine in die Reihen der Polizei, die mit Schlagstöcken und Tränengas versuchte, die Proteste unter Kontrolle zu bringen. Mindestens drei Menschen starben. Auf beiden Seiten wurden Verletzte weggetragen.
Der Kampf ums Brot war in den Monaten zuvor immer mehr eskaliert. Allein 2007 fanden landesweit mindestens 600 lokale Streiks statt, in einem Land, in dem jeder Arbeitskampf eigentlich illegal ist und in dem es nur staatliche Gewerkschaftsverbände gibt, die der Regierung als verlängerter Arm dienen. Nicht nur die Textilarbeiter weigerten sich, für Hungerlöhne die Baumwolle zu spinnen und zu weben. Selbst Steuerbeamte und Universitätsprofessoren legten die Arbeit nieder. Warum sie streike? Hanan Ali, die es gewagt hatte, ihre Arbeit in einer staatlichen Baumwollweberei trotz Streikverbotes niederzulegen, hat eine überzeugende Antwort: Sie verdiene 240 ägyptische Pfund, ungefähr 30 Euro, im Monat, habe zwei Kinder, ihr Mann sei vor sieben Jahren gestorben und sie zahle 200 Pfund Miete. „Das Leben“, sagt sie, „ist einfach unmöglich geworden.“
Die gute Nachricht: In Ägypten hat sich eine Streikbewegung entwickelt, die weder von Mubarak noch von islamistischen Moralaposteln etwas hören will – die Leute verlangen nach Brot statt nach Kopftuchdebatten. Und haben sich die islamistischen Muslimbrüder sonst gerne an die Spitze jeder Protestbewegung des Landes gestellt, sind sie bei den neuen Streikwellen vollkommen außen vor geblieben. Es gebe in der islamischen Geschichte kein Beispiel, dass die Menschen die Arbeit verweigert hätten, um gegen Preissteigerungen zu protestieren, erklärt der islamistische Prediger Yussuf Al-Badri. Sein Gegenvorschlag für die Ägypter: Hebt die Hände gegen den Himmel und betet zu Gott, dass er diese Krise lösen möge.
Die schlechte Nachricht: Das Regime hat in den letzten Jahren jede Opposition konsequent unterdrückt – mit Ausnahme der Muslimbrüder, die sich gegenüber dem Westen wie zu Hause als Schreckensgespenst einsetzen lassen, nach dem Motto: Wenn ihr die Islamisten nicht haben wollt, dann müsst ihr mit uns vorliebnehmen. Nun regt sich eine dritte politische Kraft. Allerdings gibt es keine Organisation, die den Unmut politisch kanalisieren und die Streiks koordinieren kann. Das macht es für das Regime einfacher, solche Streiks mit Polizeigewalt zu unterdrücken. Aber es macht die Revolte der leeren Mägen auch vollkommen unberechenbar.
Bisher war alltäglich härter werdende Armut ein Thema, das die internationale Öffentlichkeit nur am Rande interessiert hatte. Im Fokus standen eine mögliche Machtübernahme der Islamisten, der Streit ums Kopftuch und Ben Ladens heilige Krieger.
Wie der Kampf ums tägliche Überleben aussieht, zeigt der Alltag von fünf Ägyptern und Ägypterinnen und ihr Versuch, ihn zu bestehen: der Arbeiter Abu Aschraf, die Straßenhändlerinnen Umm Hassan und Umm Abdu kommen gerade so zurecht, Sana’, die „Chefin der
Weitere Kostenlose Bücher