Alltag auf arabisch: Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad (German Edition)
der ehemalige Dorfkern, um das im Laufe der Zeit die Stadt gewachsen ist. Erst in den letzten 30 Jahren wurde dieses Dorf von der Mittelschicht und ihren Konditoreien und Boutiquen eingekreist. Hier leben Dienstmädchen, Putzfrauen und Tagelöhner.
Nun wurde ein Markt aus dem Boden gestampft, ganz nach den Träumen der Stadtverwaltung. Jeder der gekachelten Läden ist gleich groß. Alles hat seine Ordnung. Niemand verstellt den Weg. Doch so ungewöhnlich sauber der Markt ist, so leer ist er auch, ohne jegliche Kundschaft.
Hierher wollten sie nun auch Umm Hassan verpflanzen. Doch die 250 Euro Anzahlung für den Laden und die anschließende Miete inklusive Strom- und Wasserrechnungen sind eindeutig mehr, als ihre mageren Einkünfte hergeben. So verliert Umm Hassan ihren Standort, auf dem sie in den letzten 40 Jahren schon zu einem Stück Gemüsegeschichte im Viertel geworden ist. Und mein Nachbar, dessen Familie mit einer lausigen Rente von der Hand in den Mund lebt, verliert seine billige Grünzeug-Quelle.
Aber Umm Abdu und Umm Hassan kämpfen ja nicht nur ums eigene Überleben, sondern auch um ein Stück Markt- und Stadtkultur. Und die ist nicht so leicht totzukriegen. Seit einigen Tagen stolpert man über halb abgedeckte Gemüsekisten ohne erkennbaren Besitzer. Interessiert man sich etwas näher für den Inhalt, kommt Umm Hassan auch schon geschwind um die Ecke, um gleich über Menge und Preis des jeweiligen Produkts zu verhandeln. „Was sollen wir sonst tun“, sagt ihre Tochter. „Das Wasser fließt nun einmal nicht nach oben.“ Was meint sie bloß damit? Ihren Kampf, weiterhin eine Straßenhändlerin sein zu dürfen, oder den ungebrochenen Modernisierungswillen der Kairoer Stadtverwaltung?
Die Schneiderin Sana’:
Eine Frau, die hundert Männer in die Tasche steckt
Gelassen zieht Sana’ an ihrer Wasserpfeife und lässt ihren Blick zufrieden über die heutigen Besucher schweifen. Im Vorzimmer ihrer Schneiderei ist rund um ihren Schreibtisch ein Kreis von Stühlen und Sesseln aufgestellt. Ein Raum – wie geschaffen für Audienzen. Die Aufwartung ihrer Nachbarn kommt nicht von ungefähr. Sana’ gilt als lokale Friedensrichterin und Sozialarbeiterin in einem – die Scheicha Al-Hara– die Scheichin der Gasse, wie diese Funktion auf Arabisch heißt. Eine angesehene Position, die normalerweise ausschließlich Männern vorbehalten bleibt. Aber Sana’ wird von den Menschen hier als eine „Sitt bi-miat ragil“ angesehen, eine Frau, die hundert Männern gleichkommt.
Ihre unumstrittene Einflusssphäre erstreckt sich über mehrere unasphaltierte staubige Gassen im Kairoer Armenviertel Al-Waraaq am westlichen Nilufer, dort, wo sich endlose Kilometer ungeplanter wilder Bauten langsam in die wenigen verbliebenen landwirtschaftlichen Felder rund um die Stadt hineinfressen. Seit 20 Jahren mischen sich hier Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten des ganzen Landes. Bekannt ist das Viertel für seine Stuhlfabrik und seine zahllosen kleinen Autowerkstätten, Schreinereien und Klempnereien.
Al-Waraaq ist typisch für derartige ärmliche Wohngegenden in der und rund um die Stadt, die inzwischen 40 Prozent der gesamten Stadtfläche ausmachen. Vor allem in den letzten Jahren hatten diese Armenviertel Hochkonjunktur. In den 80er Jahren wurden mehr als drei Viertel aller Neubauten Kairos ohne weitere Planung „illegal“ in solchen Nachbarschaften errichtet. In Giza, dem Teil Kairos auf der westlichen Nilseite, wo auch Al-Waraaq liegt, lebt inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Die Menschen dort sind beschäftigt mit ihrem Überleben, und mitunter geht es auch untereinander recht rau zu, bis hin zu den täglichen lautstarken, manchmal sogar handgreiflichen Auseinandersetzungen auf offener Straße. Wenn es überhaupt nicht mehr weitergeht, dann enden die Dinge in Al-Waraaq oft in Sana’s kleiner Schneiderei. Die verwandelt sich dann, je nach Lage der Dinge, schnell in einen lokalen, informellen Gerichtssaal oder ein Sozialamt.
Sana’ ist die Frau vor Ort für alle Fälle. Wenn ein Paar sich scheiden lassen will, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, wenn es darum geht, jemanden aus der lokalen Polizeistation herauszuholen oder wenn ein Nachbar für seine Krebsoperation dringend Geld benötigt – Sana’ ist stets zur Stelle. Geduldig hört sie den Geschichten über die Höhen und Tiefen des Ehelebens zu und bietet gute Ratschläge. Stur beharrt sie darauf, dass die Klage, die gerade auf
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