Alma Mater
streckte die Arme über den Kopf, so daß sich ihre Brüste hoben.
Vic konnte die Augen nicht abwenden von dieser Bewegung oder den schönen Brüsten. Sie hatte es immer ausgesprochen dämlich gefunden, daß Jungs sich auf eine einzige Körperpartie, die Brüste, konzentrierten. Sie fragte sich, wieso sie ihr früher nicht aufgefallen waren. Oder warum ein anmutiger Hals ohne Adamsapfel sie früher nie an einen Schwan erinnert hatte. Sie hatte das Gefühl, Frauen nie richtig gesehen zu haben. Sie war blind gewesen für die Schönheit der Hälfte der Menschheit. Nicht, daß sie eine schöne Frau nicht von einer unterscheiden konnte, die weniger von der Natur gesegnet war. Es war ihr nur nie bewußt geworden. Ihr war ein bißchen zumute wie damals, als sie zum ersten Mal Mozart richtig gehört hatte. Sie hatte ihn immer für einen Klimperkomponisten gehalten und konnte nicht verstehen, warum ihre Eltern seine Werke so schätzten. Eines Tages hatte sie beim Laubrechen – das Radio draußen war auf den Klassiksender eingestellt – Töne in äußerster Vollkommenheit gehört, in ihrer ganzen Harmonie, Anmut und Bewegtheit, die pure ungehemmte Freude. Das Rauschen des James war mit Mozart im Einklang gewesen.
Genauso war ihr jetzt zumute.
Jinx war schon unter der Dusche. Mignon, die herumgrummelte, daß sie richtig gruselige Geschichten erzählen könnte von gruseligen Käfern, die aus Augenhöhlen krochen, hopste hinter Vic und Chris her, als sie die lange Treppe hochgingen, deren breiter Absatz auf das Wasser hinaussah.
Oben auf dem Treppenabsatz umarmte Mignon Vic und gab ihr einen Kuß, dann umarmte sie Chris und gab auch ihr einen Kuß.
»Ich bin froh, daß ihr dabei wart, als ich die Ohrlöcher gestochen gekriegt habe.«
»Wir waren nicht dabei – genau genommen.« Vic lächelte sie an. »Und wie hast du Hojo rumgekriegt?«
Mignons Stimme wurde lebhaft. »Sie hatte gerade nichts andres zu tun.«
»Aha.« Vic schüttelte den Kopf.
»Mignon, die Ohrringe stehen dir wirklich gut.« Chris hatte die Hand auf dem Messingknauf ihrer Zimmertür.
»Echt?« Mignon klatschte in die Hände, dann breitete sie sie aus und schlang die Arme um Chris’ Hals. »Du bist so was von cool. Ich bin froh, daß meine Schwester dich mit nach Hause gebracht hat.«
Chris erwiderte die Umarmung. »Ich auch.« Als Mignon Chris losließ, stellte Chris sich auf die Zehenspitzen und küßte Vic auf die Wange. »Gute Nacht, danke für den herrlichen Tag.«
Als Vic einzuschlafen versuchte, brannte ihr der Kuß auf der Wange. Die unterschiedlich breiten Bodendielen, die glatt waren wie polierte Knochen, schimmerten sogar im Dunkeln. Chris versuchte zu schlafen. Die Zettel, die Mignon unentwegt unter der Tür durchschob, trugen dazu bei, daß sie nicht zur Ruhe kam. Die Erinnerung an den Glanz, den Vics Körper ausstrahlte, erledigte den Rest.
Anders als Vic wußte Chris, daß sie für die Sexualität von Frauen empfänglich war. Ihr war sogar schon in den Sinn gekommen, daß sie lesbisch sein könnte, ein Gedanke, den sie unbarmherzig in den hintersten Winkel ihres Gehirns verbannte. Eine Frau zu lieben konnte sie nicht schrecken, wohl aber die Reaktion der Leute.
Sie hatte ältere Frauen gesehen, von denen sie vermutete, daß sie lesbisch waren. Sie kamen ihr nicht gerade glücklich vor, aber wenn sie es recht bedachte, wie viele glückliche ältere Menschen kannte sie denn? Niemand, ob hetero oder homo, läßt sich gern beiseite schieben. Kein Wunder, daß Edward Wallace die Kontrolle fest in der Hand behielt. Geld verlieh ihm Bedeutung, ließ ihn am Ball bleiben, hielt ihn jung.
Chris, die erst zwanzig war, hatte keine Vorstellung davon, was die Jahre anrichten konnten. Sie schrieb jede Falte, jedes Stirnrunzeln im Gesicht eines homosexuellen Menschen dem Umstand zu, daß er oder sie homosexuell war. Sicher, Schwule und Lesben, die von den einen verachtet, von den anderen gehaßt, von wenigen toleriert wurden, erwarteten keine Gerechtigkeit vom Leben. Schmerz ist Schmerz.
Chris vermutete, es sei ein Vorteil des Homosexuellseins, auf Anhieb zu wissen, woher der Schmerz kam und wer ihn zufügte. Schmerz beschlich heterosexuelle Menschen allzu oft. Er war schuld an ihren verstörten Mienen, wenn sie Ende dreißig waren, an dem hektischen Streben nach beruflichem Erfolg, an der Suche nach dem Quell der Jugend, nach geistiger Erfüllung. Aber mit zwanzig konnte Chris nur sehen, daß ihre
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