Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
immerhin.“
„Das ist doch überhaupt nicht raus. Aber nun mach erstmal hin“, und Sebastian schob den Freund leicht an der Schulter vorwärts. „In gut fünf Minuten kommt nämlich der Zug und ‘ne Fahrkarte hast du auch noch nicht.“
Beide überquerten den Vorplatz. Als sie auf den Bahnsteig traten, fuhr auch schon der Personenzug ein. Zischend, dampfend und prustend rollte die Lok an ihnen vorüber, Bremsen quietschten und der Zug stand. Nur zwei, drei Waggontüren wurden aufgestoßen, wenige Menschen stiegen aus, noch weniger hangelten sich wie die beiden Freunde über die hölzernen Trittstufen in den Zug, der nur schwach besetzt war an diesem trüben Sonnabend im Oktober.
Türenschlagen war zu hören, eine Trillerpfeife, der Waggon setzte sich leise knarrend in Bewegung. Die beiden hatten im fast leeren Abteil zwei Fensterplätze besetzt. Hans-Peter schwenkte sein Köfferchen ins Gepäcknetz und sie hängten ihre Mäntel in jeweils eine Fensterecke. Sebastian lehnte sich zurück und sah in Fahrtrichtung zum Abteilfenster hinaus.
„Du hast bloß mit, was du anhast“, stellte Hans-Peter fest, indem er sein Gegenüber skeptisch musterte.
„Natürlich, das siehst du doch. Das wird auch reichen“, fügte Sebastian hinzu. „Dein Koffer da“, und er wies mit dem Daumen ins Gepäcknetz über sich, „das verstehe ich nicht.“
„Wenn wir dableiben müßten, dann wärst du übel dran. Kein Hemd zum Wechseln, keine Hose, keine Strümpfe …“
Sebastian schüttelte grinsend den Kopf. „Du kommst mir vor, als ob du auswandern wolltest.“
„Aber du“, sagte Hans-Peter, „du willst doch auch abhauen.“
„Ja, nur noch nicht jetzt.“
Hans-Peter zuckte mit den Schultern. „Das verstehe wiederum ich nun nicht und bei dir schon gar nicht.“
„Drüben würden wir ja nicht mehr dazu kommen Widerstand gegen diese Schweinebande hier zu leisten.“
„Na und? Wir haben doch bereits einiges getan …“
„Ja schon“, und Sebastian beugte sich mit den Händen auf den Knien etwas vor, „doch die Möglichkeiten, die wir jetzt hier haben … also wie willst du denn sonst gegen diese Verbrecher vorgehen? Die Mühe mit den selbst gemachten Flugblättern damals“, Sebastian winkte ab, „für die Katz’ das Ganze.“ Er ließ sich wieder in die Ecke zurückfallen, den Kopf gegen den Mantel gelehnt. „Denk daran“, sagte er, „was Pi-Pa-Po gesagt hat: Gestaffelte Angriffsformationen der Russen an der Grenze nach Westen. Die sind verrückt genug und denken, sie können den Westen in einem gerechten Krieg, wie sie uns das einreden wollen, besiegen und den Weltkommunismus ausrufen. Das kennst du doch aus der Schule: Erst wenn der Kommunismus in der ganzen Welt herrscht, gibt’s auch den Weltfrieden und was für einen. Nur die Atombombe bewahrt uns noch davor.“
„Du mußt nicht gleich wieder so politisch werden. Wir können die Welt nicht retten“, sagte Hans-Peter.
„Wo leben wir denn? Hier ist doch jeder Atemzug politisch, das sagen die Bonzen selbst, alles ist politisch sagen die. Und die ganze Welt retten, das ist natürlich Quatsch. Wir müssen schon sehen, wie wir uns erstmal selber retten, aber nicht, indem wir alles fallen, stehen und liegen lassen. Ich verstehe gar nicht, was dich so in Panik bringt. Wie sieht’s denn aus? Deine Schwester hat deiner Mutter was erzählt und die dann deinem Vater, der nun als alter Genosse mißtrauisch wird. Was also soll’s? Haben die dich mit dem Koffer gesehen?“
Hans-Peter schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Wo denkst du hin!“
„Na gut“, erklärte Sebastian, „dann sehen wir erstmal, was Pi-Pa-Po sagt.“
Nach dem Umsteigen in Lübbenau in den D-Zug nach Berlin saßen beide in einem Abteil, das mit einer gläsernen Schiebetür vom Wagengang getrennt war. Sebastian hatte wieder einen Fensterplatz erwischt und Hans-Peter saß neben der Tür, dort mit geschlossenen Augen in die Ecke gelehnt. Sebastian sah durchs Abteilfenster die Landschaft draußen vorüberziehen. Nicht möglich, sagte er sich, daß er das dort draußen für lange Zeit nicht wieder sehen würde. Im Westen bleiben? Daß er die Familie aufgeben müßte wäre schon das Schlimmste, aber nicht zu ändern. Der Westen war schließlich sein Ziel, aber das hatte noch Zeit.
Er löste den Blick vom Fenster und sah sich im Abteil um: Ein Mann las Zeitung, ein anderer döste in der Fensterecke ihm gegenüber, eine junge Frau mit vielen Taschen fuhr wohl zu einem Besuch nach
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