Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
geritzt. Und in den letzten vierzehn Tagen, in denen die Verhöre ausgeblieben waren, hatte sein Gehör sich nicht nur von Schlafmangel und Vernehmungsstreß erholt, sondern sich in der ständig herrschenden Stille so geschärft, daß er den Schließer in seinen Filzpantoffeln schon hören konnte, wenn der am Anfang des Ganges den ersten Schritt tat. Je näher er sich dann heranschlich, umso lauter raschelte der Stoff der Hosenbeine, wenn sie beim Laufen gegeneinander rieben. Das machte richtig Lärm.
Und wenn er sich ganz aufs Fenster konzentrierte, konnte er sogar etwas vom Verkehrslärm der Stadt dort draußen auffangen, etwa das Schrammen, Rumpeln und Quietschen einer Straßenbahn, wenn sie in eine Kurve fuhr. Seltener auch mal Automotorengeräusche, falls der Wind dafür günstig stand.
So vergingen weitere Tage, eingeteilt in Frühstück, Mittag: Kohlsuppe oder drei, vier Pellkartoffeln in irgendeiner Fischmehlsoße und Abendbrot. Dazwischen früh und abends das Entleeren des Kübels. So saß er denn auf dem Pritschenrand, Brot und manchmal dazu noch einen Eßlöffel Zucker auf einem Stück Zeitungspapier und den Becher neben sich, bedächtig kauend, langsam, gründlich. Zum Schluß noch einige Brotkrumen, die er mit angefeuchteter Fingerspitze von der Holzpritsche stippte. Dabei dachte er manches Mal schon an große Bauernbrotschnitten mit Schmalz und Leberwurst.
Später las er auch die handtellergroßen Stücke einer zerschnittenen Zeitung, die man ihm als Toilettenpapier in der Zelle ließ. Eines Tages irritierten ihn leicht ziehende Schmerzen über der Nasenwurzel, auf der Oberlippe und in den Mundwinkeln. Schließlich ertastete er das als den Beginn eines grindigen Ausschlags.
Haus des Schweigens nannte Sebastian seine erzwungene Unterkunft. Umso lauter dröhnten dann aber immer wieder Schlösser und Riegel, wenn sie jemanden zum Verhör holten oder von dort brachten. Jedes Mal, wenn das in seiner Nähe geschah und die Riegel zurückgestoßen wurden, stellten sich ihm die Haare auf und Schweiß sammelte sich in den Achselhöhlen. Sein Hemd roch bereits ähnlich wie die ranzige Decke, die auf der Pritsche lag und auf der er nachts seine Hände halten mußte, um nicht ständig geweckt zu werden.
Die Weihnachtsfeiertage rückten näher und eines Tages erkannte er morgens nach dem Wecken hinter den Rillenglasscheiben eine schmale weißgraue Kante am unteren Fensterrand, die sonst nicht dort gewesen war. Schnee, sagte er sich und starrte aufs Fenster, draußen hat es geschneit. Als das morgendliche Blaugrau allmählich in das Grau des Tageslichts überging, stand dieses heller in den Scheiben als sonst. Draußen wird alles weiß sein. Auch die Rufe der aus ihren Schlafbäumen abfliegenden Krähen klangen anders, vielleicht gedämpfter?
Das hatte man ihm aus der Hausordnung vorgelesen, erinnerte er sich: Lautes Reden, Singen, Rufen und Klopfen waren verboten. Über das Klopfen stand er jedoch inzwischen mit den Insassen der Zellen um sich herum in Verbindung. Jede Zelle rief er mit einem eigenen Klopfzeichen. So erfuhr er nach und nach daß die dort wegen Spitzbartwitzen oder anderer despektierlicher Äußerungen über den Staat saßen, auch wegen tätlicher Auseinandersetzungen mit Parteigenossen oder öffentlicher Beschimpfungen solcher Lehrer des Volkes. Da hieß es dann Staatsverleumdung, Boykotthetze, Verächtlichmachung des Staates und seiner Vertreter … Einige saßen dort, weil sie zum Streik aufgerufen und an den Aufmärschen vom 17. Juni teilgenommen hatten, andere wegen Devisenvergehens: Sie hatten für Ostgeld in Westberlin eingekauft usw. Und er selbst? Hatte er beim Verhör nichts zugegeben, so konnte er dies hier nicht über Klopfzeichen verbreiten, wie er das zu Anfang in seiner Verwirrung getan hatte.
Natürlich schlichen die Schließer auf den Gängen herum, um die Klopfer aufzuspüren, nur wußten sie nicht, wie gut sie mit dem durch die Stille trainierten Gehör der Zelleninsassen dort draußen beim Anschleichen auszumachen waren, schon lange, bevor sie den Deckel vom Spion schoben.
Sebastian war wie fast alle Mitgefangenen im Klopfen derart geübt, daß das Stakkato der inzwischen fast nur noch nötigen Halbsätze von Untrainierten keinesfalls mehr zusammenbuchstabiert werden konnte. Ihm war auch klar geworden, von anderen über Klopfzeichen bestätigt, daß es Taktik der Stasi war, Menschen durch wochenlange völlige Isolierung zu zermürben. Auch Schlafentzug und Kreuzverhöre
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