Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
Handgranaten und Panzerfäuste lagen. Er wußte, wo Wildschweine sich suhlten und Rotwild seinen Stand hatte, wo Rehwild wechselte und wildernde Bauernjungs Schlingen legten. Er liebte diese Wälder.
So gingen die Tage dahin. Ende Februar hatte endlich Tauwetter eingesetzt. Schneematsch wirkt zerstörerisch auf schlechtes Schuhwerk. Sebastian trug bei der Arbeit den Winter über klobige schweinslederne Schuhe, die gegen Feuchtigkeit und aggressive Nässe nicht wirklich Schutz boten. Gummistiefel gab es nirgends. Einer von Sebastians Lehrlingskollegen kam, viel beneidet, in steifen Schaftstiefeln der SA zur Arbeit, ein anderer in russischen Filzstiefeln, ein dritter erschien in hochgeschnürten Schlittschuhstiefeln. Kollege Nuglisch besaß ganz neue Arbeitsschuhe aus dem Westen. Freund Hans-Peter wiederum trug zu dicken Socken weiterhin die Halbschuhe seines Vaters. Schließlich war er nicht gezwungen sich bei jeder Witterung in freier Natur zu bewegen.
Nachts gab es immer noch leichten Frost, die Straßen waren jedoch bereits schneefrei, am frühen Morgen aber doch noch glatt. Im Wald zeigten sich freie Flächen und wo noch Schnee lag war er zusammengefallen und verharscht, bräunlichgrau von Pflanzenresten und welken Kiefernnadeln. Kahl ragten Birken in den Himmel und Weiden und Erlen, die enge Bachläufe säumten, überwuchert von welken Farnwedeln, die gelb und braun schlaff ins Wasser hingen. Das Eis war weggeschmolzen, die Natur taute auf. Eisige Rückschläge konnten nur noch von kurzer Dauer sein. Am 1. März, meinte Sebastian, beginnt der Frühling. Und der setzte dann auch bald mit Frühjahrsstürmen ein. Holzeinschlagsarbeiten mußten ausgesetzt werden.
Sebastian wurde bei Revierleiter Nagel mit Büroarbeiten beschäftigt. Durch die Doppelfenster konnte er das Toben des Sturms beobachten, der am Teich die Weiden beugte, Chausseebäume zauste und Wolkenfetzen über den Himmel jagte. Gespürt hatte er ihn am Morgen auf dem Fahrrad. Auf der Waldstrecke war noch nicht allzu viel zu merken gewesen, dort jaulte der Sturm nur in den Wipfeln der Kiefern links und rechts der Chaussee. Doch auf der Gefällestrecke hinab in den Ort hätten die Böen ihn einige Male fast in den Straßengraben geworfen. Tief über die Lenkstange gebeugt war er in weiten Schlangenlinien dem Ortseingang entgegengerollt. Auf dem Heimweg mußte er, gegen den seitlich heranbrausenden Sturm gestemmt, das Fahrrad den Berg hinauf führen. Am dritten Tag endlich flaute der Orkan zu einem leichten Wind ab und am Himmel zeigten sich wachsende blaue Flecken. Die Sonne schickte helles Frühlingslicht in Schattenspielen über das Land.
19.
An einem dieser letzten Februartage waren Sebastian und Hans-Peter verabredungsgemäß nach Westberlin gereist. Es war dies ein Freitag, an dem Hans-Peter die Schule schwänzte und Sebastian sich eine „Unpäßlichkeit“ zulegte. Die Mutter war insoweit informiert, als sie glaubte, es ginge um Hans-Peters Schwester im Westberliner Flüchtlingslager. Sie dachte, Hans-Peter solle diese aufsuchen und Sebastian würde wieder mal mitfahren, also „krankmachen“, wie er sich ausdrückte. Er wisse nur nicht, hatte er ihr erklärt, ob sie noch am selben Tag zurückkommen könnten. Wenn nicht, würden sie im Flüchtlingslager übernachten. Also nur, meinte er, falls unwahrscheinlicher Weise jemand nachfragen sollte, dann sei er in jedem Falle krank. Auf die Frage der Mutter, ob das denn alles unbedingt sein müsse, antwortete er: Doch, es sei ganz wichtig! Dazu nickte er und setzte eine bedeutsame Miene auf. Frau Sebaldt hob die Schultern. „Wenn du meinst“ sagte sie, „tu, was du nicht lassen kannst.“ Ein gutes Gefühl hatte sie bei der ganzen Angelegenheit nicht, auch waren ihr die Sasses nicht ganz geheuer. Die plötzliche Flucht der Tochter vor einigen Wochen nach Westberlin kam ihr schon lange komisch vor. Das sei eigentlich keine Familie meinte sie, aus der nach dem Westen geflüchtet werde. Es waren dies Bedenken, die sie nicht laut äußerte, beruhten sie doch nur auf Gefühlen. Bedenken also, die sie auch selbst bald wieder beiseite schob. Schließlich wurde alles Denken und Trachten von den Fragen überlagert, wie man die Familie gesund über den Winter bringen könne.
Da gab es das bedrückende Bild der Kartoffelkiste im Keller, Ende Februar bereits zu drei Vierteln geleert. Die wenigen Einweckgläser mit Obst und Gemüse aus dem Garten gingen ebenfalls zur Neige. Es gab nicht genug Gläser. Und
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