Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
Haltestelle Augustusbrücke und warteten auf die Straßenbahn. Nie flogen die Bomber das Ziel direkt an, es gab oft falschen Alarm. Das Frühwarnsystem konnte die Flugbewegungen nicht mehr feststellen. Vorboten warfen Ketten von Störsendern ab, so kam die Warnung oft zu spät. Ich wurde unruhig, hatte Angst, große Angst, und ich ahnte, dass es dieses Mal kein blinder Alarm war. Gisela drängte aufgeregt: »Komm, lass uns an die Elbe gehen, da können wir uns notfalls flach auf die Erde legen.«
»Nein«, wehrte ich ab, einer inneren Stimme folgend, »lass uns so schnell wie möglich die Stadt verlassen. Wir laufen die Straßenbahnschienen entlang, wenn nötig, können wir immer noch einen Luftschutzkeller aufsuchen.«
Ich lief einfach drauflos, Gisela hinter mir her. Häuser mit einem Luftschutzraum waren groß und deutlich mit LSR gekennzeichnet. Bunker gab es in Dresden keine. Wir hatten gerade 20 Minuten Zeit, als das fürchterliche Dröhnen der anfliegenden Bomber zu vernehmen war. Das Dröhnen wurde immer stärker. Wir rannten, rangen nach Atem, rannten weiter. Wie weit wir gekommen waren, konnten wir nicht genau erkennen, als wir von einem Luftschutzwart gestoppt und energisch in einen Keller geschickt wurden.
Die Beleuchter hatten bereits begonnen, das Elbtal und die Altstadt mit ›Christbäumen‹ [1] auszuleuchten. Kein Scheinwerfer blitzte. Es gab keine Flak-Abwehr. Beim Hinabsteigen in den Luftschutzraum bekam ich kaum Luft. Eine spärliche Beleuchtung zeigte die Richtung an. Hinter uns kam der Luftschutzwart und schloss die Kellertüre. Auf Bänken an den Wänden saß die Hausgemeinschaft mit ihrem sogenannten Luftschutzgepäck. Vorwiegend Frauen mit ihren Kindern, alte Menschen und einige, die, wie Gisela und ich, einen fremden Luftschutzkeller aufsuchen mussten. Die Geräusche, die in den Keller eindrangen, sind nicht zu beschreiben. Dabei hatten wir ein Ziel erreicht, das nicht mehr direkt zur Altstadt gehörte. Wir beteten alle gemeinsam. Sogar die Kinder beteten mit und mir fiel es plötzlich ganz leicht, andächtig Gott anzuflehen:
»Herr, verschone uns!«
Die vier anwesenden Kinder im Alter zwischen etwa drei und sechs Jahren fingen an zu weinen, klammerten sich an ihre Mütter und jammerten: »Mama, ich habe Angst!«
Man roch bereits die Angst, die sich in diesem Keller ausbreitete. Ein älteres Ehepaar saß mir gegenüber. Der Mann hielt seine Frau fest an sich gedrückt und streichelte ihr über das Haar, küsste ihre Wangen und sagte immer wieder ganz leise zu ihr: »Bleib ruhig, mein Schatz, bleib ruhig. Ich bin bei dir, ich bin doch bei dir.«
Wäre nicht alles so tragisch gewesen, beinahe hätte ich dieses alte Ehepaar beneidet. Wie lange mochten sie schon gemeinsam durchs Leben gegangen sein? Hatten sie Kinder, Söhne, die ebenfalls an der Front ums nackte Überleben kämpften? Ob wir hier lebend herauskommen würden? Die Zeit dehnte sich schier endlos, Minuten kamen einem wie Stunden vor. Es konnten etwa eineinhalb Stunden vergangen sein, als der Luftschutzwart für uns Kellerinsassen Entwarnung gab. Die Sirenen funktionierten nur noch in den Vororten. Mit solchen Defekten wurde von den Angreifern gerechnet. Dadurch steigerten sich die Menschenverluste.
Als wir den Keller verließen, stockte uns der Atem. Ich glaubte, mein Herz bliebe stehen. Es nahm mir die Luft zum Atmen. Ein Feuersturm jagte eine kilometerhohe Rauchwolke gen Himmel. Es war fast taghell. Aber ringsum bot sich der Anblick einer anderen Welt. Gespenstisch, die Hölle auf Erden. Das Feuer tobte in Dreiviertel der Altstadt.
Kurz nur dachten wir an das Grauen und Elend der Altstadtbewohner. Dann gab es nur noch einen Gedanken: Nichts wie weg hier, ehe die Hölle uns erreicht.
Gisela und ich machten uns auf den Weg, immer den Bahnschienen entlang, in Richtung Albertplatz. Wir liefen und liefen, ohne etwas zu sagen. Tränen rannen uns die Wangen hinunter, wir zitterten am ganzen Körper. Wie weit wir gekommen sind auf unserem Fußmarsch, weiß ich nicht. Gisela kannte jede Station der Straßenbahn. Ich verließ mich einfach auf sie. Nach 90 Minuten heulten erneut in den Vororten die Sirenen, etwa gegen 1.15 Uhr. Die Dresdener hatten gerade genug Zeit gehabt, um durchzuatmen, und wollten einfach nur dieser Flammenhölle entfliehen. Sie schleppten sich zum Teil auf die Elbwiesen und in den Großen Garten. So kamen beim zweiten Angriff noch um ein Vielfaches mehr Menschen ums Leben. Dies war offenbar genau
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