Als Mrs Simpson den König stahl
Champagner, abgerundet von einem prächtigen Feuerwerk. Bei einem Festbankett im Opernhaus, zu dem Julian dank der vorbildlichen Kontakte Chips Channons in letzter Minute geladen war, seien die Gäste von Lakaien begrüßt worden, die wie im 18. Jahrhundert in rosa Uniformen gekleidet waren. An einer mit Seerosen geschmückten Tafel hatte Julian sich allerdings furchtbar fehl am Platz gefühlt. Er hatte beobachtet, wie unbedeutende Mitglieder europäischer Königshäuser Umgang mit hohen deutschen Staatsbeamten pflegten, und Chips hatte ihm entfernte ausländische Cousins und Cousinen der britischen Königsfamilie gezeigt, allesamt Nachfahren der alten Königin Victoria.
Während May sich Julians Geschichte anhörte und den Geruch seiner Zigarette einatmete, rührte sie kaum ihr Getränk an. Sie war glücklicher und zugleich ängstlicher als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, seit er nach Berlin aufgebrochen war.
Sie wusste nicht, was in Deutschland zwischen ihm und Lottie geschehen war. Aber sie war bereit zu warten. In diesem Moment wollte sie nur daran denken, dass sie mit Julian allein im Pub saß.
Julian beschrieb, wie die machtdurstigen Briten ungeduldig auf ihren Augenblick mit Herrn Ribbentrop warteten, dem Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter des Deutschen Reiches, der sich bald in London niederlassen sollte.
»Chips glaubt, dass Ribbentrops elegantes und charmantes Auftreten nur Fassade ist und sich hinter all der Höflichkeit eine Person aus unbiegsamem Stahl verbirgt«, erzählte er May mit der Miene eines privilegierten Eingeweihten. Er schilderte, wie er einmal, um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben, Teile der Stadt allein erkundet hatte. Irgendetwas hinderte Julian allerdings daran, vor May zu erwähnen, dass Lottie mehr als bereit gewesen war, mit Rupert im Hotel zurückzubleiben. Sie hatte verkündet, sie seien beide darauf erpicht, das besondere deutsche Bier des Hotels zu probieren. Die ganzen Ferien über hatte Lottie schlechte Laune gehabt und bei einer Gelegenheit sogar angedeutet, Julian wäre vielleicht glücklicher, über die Landstraßen von Sussex zu kurven. Ihr Ton war unzweideutig sarkastisch gewesen. Stattdessen erzählte er May, dass viele Ladenfronten vernagelt und die Türen mit Graffiti beschmiert waren. Meist überstiegen die mit Farbe aufgetragenen Losungen Julians Deutschkenntnisse, oftmals aber trug eine Ladentür eine Aufschrift, die nur aus einem einzigen Wort bestand: »Jude«, mitunter nur aus zwei Buchstaben, die in jüdischen Gassen immer wieder auftauchten.
»Man hat mir gesagt, JV stehe für ›Juda verrecke!‹«, erklärte er May und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Wie furchtbar«, sagte May und fröstelte unwillkürlich, »dass sich so viele schreckliche Vorurteile mit nur zwei Buchstaben ausdrücken lassen.«
Schließlich hatte Julian sich in einem Labyrinth aus Straßen
verirrt, sodass er in stockendem Deutsch nach dem Weg fragen musste. Er fand sich in einer kleinen Gruppe Schaulustiger wieder, die sich direkt gegenüber Hitlers Residenz in der Wilhelmstraße versammelt hatten. Das Haus war von mehreren Männern in der allgegenwärtigen braunen Uniform mit Stiefelhosen abgeschirmt. Sobald Hupsignale ertönten, nahmen sie Haltung an. Dann fuhren vier schwarze Limousinen vor dem Haus vor. Die kleine Gestalt, die einem der mittleren Wagen entstieg, eilte rasch ins Haus, aber Julian gelang es, sie genauer in Augenschein zu nehmen.
Die Olympischen Spiele selbst waren ein Ereignis, das Julian niemals vergessen würde. Die Eröffnungszeremonie, die in dem mit hunderttausend Zuschauern ausverkauften Stadion unter stark bewölktem Himmel stattgefunden hatte, war in diesem Jahr um ein neues Spektakel erweitert worden: einen Fackellauf, bei dem eine auf dem griechischen Olymp entzündete Fackel von einer Stafette nach Berlin und in der Hand eines hochgewachsenen deutschen Athleten schließlich ins Stadion getragen wurde. Auf ihrer zwölftägigen Reise hatte das Feuer unablässig gebrannt. Im Stadion drängten sich dreißigtausend Angehörige der Hitlerjugend und des BDM . Die Szene ähnelte dem größten Zapfenstreich, den die Welt je gesehen hatte. Als Hitler seinen Platz auf der Tribüne einnahm, brüllten Zehntausende von Zuschauern ihren ohrenbetäubenden Jubel über seine Anwesenheit heraus. Zum Salut für die winzige Gestalt in brauner Uniform hoben sie den rechten Arm in die Höhe und schrien wie aus einem Mund: »Heil Hitler!« Julian hatte
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