Als würde ich fliegen
Brünette, unterhielt sich ganz ungezwungen mit Jeremy, während sich die Jüngere, ebenfalls Hübsche, mit honigblonden Zöpfen, um ein Gespräch mit Edward mühte. »Du bist nicht so gesellig wie dein Bruder, oder?«, sagte sie und sah neidisch zu ihrer Schwester. Unter dem Blick seiner Mutter lächelte Edward schwach und floh schließlich in sein Kinderzimmer.
Er blieb eine ganze Weile dort und schaute hinunter in den Garten. Er sah, wie seine Mutter mit dem Absatz im Rasen stecken blieb, das fremde, honigblonde Wesen ganz alleine dort stand. Im Gras neben ihr bewegte sich etwas sehr rasch. Weil er nicht erkennen konnte, was es war, schob er die Gardine ein wenig beiseite. Es war ein Tier, wahrscheinlich ein Hund, doch es war nur der Schatten eines Hundes, ein Schatten, der keinen Körper hatte. Es lief im Kreis auf dem Rasen, immer und immer wieder, als würde es seinem eigenen Schwanz nachjagen.
Allmählich verblassten die Menschen im Garten. Die Zeit schritt voran. Riley wurde zu einem jungen Mann, Jeremy verließ das Elternhaus, das Zimmer leerte sich, aber während all dieser Zeit hatte er stets das Gefühl, am Fenster zu stehen und den unmöglichen Schatten zu beobachten, fasziniert und unfähig, seinetwegen den Raum zu verlassen. Wie war er beschaffen? Wie sah aus, was diesen Schatten warf? Diese seltsame Vorstellung verließ ihn nicht, nicht während des Studiums, nicht während der Arbeit. Langsam bekam er das Gefühl, dass die Tür in seinem Rücken verschlossen war.
Antoney traf, samt seinem Wäschebeutel, in den frühen Morgenstunden des Heiligabend bei Riley ein. Er ging tagelang nicht nach draußen, nicht einmal in den Garten. Er trank und rauchte ununterbrochen. Als Alkohol und Zigaretten zur Neige gingen und Riley sich weigerte, Nachschub zu kaufen, zog Antoney in seinem dreckigen Trainingsanzug los und kehrte gleich darauf wieder zurück. Er wollte nicht in den Park. Er wollte nicht fernsehen, nur schlafen – schlafen, trinken, rauchen. »Riley«, sagte er, »ich bin am Ende.«
Selbst in diesem Zustand hatte Riley ihn gerne um sich. Die Außenwelt brach weg, im Innern der Wohnung herrschte die gedämpfte Atmosphäre eines der Welt entrückten Tempels. Regnete es, war es wie eine weit entfernte Musik. Am letzten Tag des Jahres schneite es. Diesmal war Antoney bereit, hinaus in den Garten zu gehen; sie schritten über den Teppich aus Weiß und ließen sich Flocken in den Mund schneien. Zu Neujahr schenkte Riley Antoney einen Band mit Gedichten von W. B. Yeats und las sie ihm bei Kerzenschein im Wohnzimmer vor, wo sie ihm ein Bett gebaut hatten. Für Riley war es eine glückliche und friedvolle Zeit.
Antoney beeindruckte, wie Yeats über die Natur sprach, als eine mystische, uns weit überlegene Kraft, aber auch als etwas sehr Verletzliches. Antoney sagte zu Riley, dass Gott uns womöglich auf die Erde entsandt habe, damit wir litten, damit wir an den Punkt kamen, an dem wir seine Schöpfung zur Kenntnis nahmen und Trost in ihr fanden. Mag sein, sagte Riley, er aber hielt jede institutionalisierte Religion für eine Form der Kontrolle; all das konnten wir doch auch so zur Kenntnis nehmen. Dennoch zog Antoney im Januar an einem klaren Sonntagmorgen seine guten Sachen an und verkündete, dass er in die Kirche gehen wolle. So guter Dinge hatte Riley ihn seit seiner Ankunft noch nicht erlebt, er schien wieder hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Er wolle, so sagte er, sein Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken. Doch als er zwei Stunden später zurückkehrte, war er aufs Neue verzagt. Es hatte ihn an zu Hause erinnert, an die Zeit, als ihn seine Mutter jeden Sonntag in die Kirche geschleift hatte, nachdem sein Vater verschwunden war. Seine Mutter hatte ihm gesagt, Gott, und nicht Mr. Rogers, sei nun sein Vater, also hatte er in den farbigen Glasfenstern, am Altar, an der Decke und am Kreuz nach Mr. Rogers gesucht. Natürlich hatte er ihn nicht gefunden. Er hatte zu seiner Mutter aufgeblickt, die sang und mit den Händen auf den Wangen betete, und da war ihm allmählich aufgegangen, dass Gott ein Weg war, das zu finden, was man suchte, indem man schlicht eine Weile vergaß, dass man es verloren hatte. Deshalb gingen die Leute jeden Sonntag in die Kirche. Es war nichts als Schwindel.
Er blieb mehrere Monate bei Riley, ohne große Anstrengungen zu unternehmen, sich eine eigene Bleibe zu suchen, obwohl er das angeblich vorhatte. Sie fanden in eine harmonische Routine. Riley arbeitete
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