Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
warten. Vom letzten Felsen aus hat man eine noch bessere Aussicht und mehr Platz auf dem Plateau. Ich meine, wenn es dir nichts ausmacht.«
Bärbel ließ ihr helles Lachen über die Felsen klingen. »Nein, mein lieber Lorenz. Ich halte es schon noch ein Weilchen aus. Und wenn wir gleich eine noch hübschere Aussicht beim Essen genießen können, lasse ich den Rucksack noch zu.«
Sie tranken einen Schluck Wasser und gingen dann weiter. Es wurde lichter. Viele Baumstämme lagen, bar ihrer Rinde, nackt auf dem Boden verstreut. Lorenz kamen sie vor wie die ausgebleichten Knochen riesenwüchsiger Waldbewohner. Und das waren sie ja auch, wie ihm einfiel. Er fühlte sich plötzlich müde und kraftlos. Vielleicht war es die Wärme, vielleicht hatte er auch in der vergangenen Nacht zu wenig geschlafen. Jedenfalls war Lorenz froh, als eine Bank am Wegesrand auftauchte und er sich setzen konnte. Er atmete durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Bärbel stand vor ihm und sah ihn prüfend an. »Du siehst etwas mitgenommen aus.«
Lorenz nickte. »Klar. Du musst es wissen, denn du hast mich ja schließlich auch mitgenommen.«
Gustav nahm neben Lorenz Platz. »Ich muss mich auch mal setzen. Bin schließlich der Älteste in der Runde.«
Bärbel wies auf die Gedenktafel, die hinter der Bank auf einem hoch aufragenden Metallgerüst angebracht worden war.
»Ich kann das nicht lesen«, meinte sie. »Ist das für den Herrn Schramm, nach dem dieser Weg benannt ist?«
Lorenz schüttelte müde den Kopf. »Nee, auf dieser Tafel könntest du, wenn man das Ding nicht verrückterweise allzu weit über Kopfhöhe platziert hätte, nachlesen, dass hier vor vielen Jahren, noch vor dem Ersten Weltkrieg, ein Feuerwehrmann namens Heinrich Düster im Einsatz verbrannt ist.«
»Kommt mir bekannt vor«, meinte Gustav.
»Klar. In Nideggen ist eine Straße nach ihm benannt.«
Bärbel machte große Augen. »Woher weißt du das alles nur?«
Lorenz kraulte seinen grauen Bart, dann grinste er und antwortete: »Ich wusste es irgendwann mal und hab heute Morgen über diesen Weg ein bisschen Im Internet gestöbert. Hätte mich sonst sicher nicht an solche Details erinnert.« Dann stand er auf und meinte: »Von mir aus kann’s weitergehen.«
Gustav erhob sich ebenfalls. »Mich fragt ja eh keiner.«
Sie folgten dem Pfad, der sich durch den Steilhang wand und immer wieder weite Blicke ins Rurtal bot.
Bärbel rief aus: »Schaut mal, man kann unsere Seniorenresidenz sehen!«
Die beiden Männer schauten angestrengt über die Felsen nach Nideggen hinüber, wo ihr Heim tatsächlich am Ortsrand zu sehen war.
Lorenz sagte: »Schaut mal, Frau Klinkenberg zieht sich gerade in ihrem Zimmer um – alle Wetter, hätte nicht gedacht, dass das lange Elend solche Dessous trägt.«
»Alberner Kerl«, erwiderte Bärbel und knuffte den Alten. »Das kannst du doch gar nicht sehen aus dieser Entfernung.«
Lorenz lachte. »Die Vorstellung ist in meinem Alter wichtiger als das Sehen, meine Liebe.«
Heiter folgten sie dem Pfad, bis sie an das von einem Geländer gesicherte Plateau des letzten großen Felsens gelangten. Hier setzten sie sich auf den warmen Sandstein und packten ihren Proviant aus. Bei Käsebroten und Äpfeln genossen sie das herrliche Panorama. Von Nideggen, seiner markanten Burg und der Kirche über die Felsen des Effels bis nach Schmidt und dem dortigen, auf der Höhe gelegenen und weithin sichtbaren Windpark reichte die Sicht. Tief unten lagen Brück und Zerkall, durch die sich windende Rur verbunden. In der Mitte des Felsplateaus befand sich eine kreisrunde, mit Wasser gefüllte Vertiefung. Lorenz fragte sich, wie dieses Loch wohl entstanden sein mochte. Er konnte sich nicht erinnern, ob es schon dort gewesen war, als er mit Maria zum ersten Mal an dieser Stelle gestanden hatte. Lorenz seufzte leise. Das war nun mehr als ein halbes Jahrhundert her. Wenn er die Augen schloss, die Sonne auf seiner Haut spürte und dem Wind lauschte, der über die Felsen strich und mit den Baumwipfeln spielte, schien alles wie damals. Er könnte jetzt auch gerade einmal zwanzig sein und mit seiner Freundin einen Sonntagsspaziergang unternehmen. Fesch ist sie anzuschauen in den sportlichen Hosen und den Wanderschuhen. Er hat große Lust, heute noch, wenn er sie abends nach Hause bringt, bei ihren Eltern um die Hand der Tochter anzuhalten. Und er weiß plötzlich, dass sie die Mutter seiner Kinder sein wird.
»Gehen wir noch zum Hindenburgtor?«
»Was?«
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