Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
schüttelte den Kopf und seufzte. Dann griff er zur Mühle und klemmte sie zwischen den Knien ein. Er begann den Hebel zu drehen. Seit vielen Jahren tat er dies mit immer derselben Bewegung, in immer gleicher Geschwindigkeit. Nur erschien es ihm diesmal anstrengender als sonst. Dann spürte er den Druck an seinen Schläfen. Bald wurde ein heftiger Kopfschmerz daraus, der mehr und mehr anschwoll. Gustav versuchte die Kaffeemühle auf den Tisch zu stellen. Er streckte die Arme aus und wollte sich erheben. Der Schmerz in seinem Kopf wurde immer stärker. Seine Hände öffneten sich, und die Mühle fiel zu Boden. Der Alte bemerkte dies nicht. Er hörte nichts außer dem Schlag seines Herzens und dem dumpfen Widerhall dieses Pochens hinter seiner Stirn. Der Schmerz brannte in seinen Augenhöhlen. Gustav schloss die Lider und wartete einige Herzschläge, ob sich etwas verändern würde.
Der Schmerz schien tatsächlich nachzulassen. Er öffnete die Augen wieder. Die Welt hatte sich verändert. Alle Dinge, die ihn umgeben hatten, waren verschwunden und hatten eine konturlose weiße Leere hinterlassen. Das Herz blieb ihm stehen. Der Kopfschmerz war nun ebenso verschwunden wie alles andere.
Gustav horchte. War jemand zu hören? Oder irgendetwas? Eine tiefe Gewissheit breitete sich in ihm aus: Er war allein. In diesem Moment wurde ihm klar, dass, falls es jemals Menschen oder Dinge außer ihm gegeben hatte, all dies sich restlos aufgelöst hatte. Oder hatte er nur geträumt, dass es außer ihm und dieser endlosen Leere etwas anderes gegeben hatte?
Jetzt erinnerte er sich wieder. Er war eingeschlafen und hatte geträumt. Von einem Zimmer, einer alten Kaffeemühle und Menschen, die er einmal zu kennen geglaubt hatte. Doch nun war er erwacht. Die Welt war leer. Es gab niemanden außer ihm selbst.
Gustav stand auf. Schritt für Schritt bewegte er sich durch diesen raumlosen Zustand. Ihm war schwindlig. Er stolperte. Kurz spürte er einen Widerstand, dann ging es weiter. Seine Füße suchten Halt im weißen Nichts. Wieder stolperte er, aber er fiel nicht. Wohin hätte er auch fallen sollen.
»Herr Brenner«, sagte die alte Dame, die von der Nachtschwester unterwegs zu ihrem Zimmer war und auf dem Flur um diese Zeit niemanden mehr erwartet hatte. »Herr Brenner, guten Abend.«
Gustav antwortete nicht. Nichts ließ darauf schließen, dass er die Frau überhaupt wahrgenommen hatte. Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, bis er den nächsten Gang erreicht hatte und aus ihrem Blickfeld verschwand.
Gustav fror plötzlich. Kühl und klamm fühlte sich das weiße Nichts an. Er rieb sich die Arme. Auch diese waren feucht. »Was ist das für eine verdammte Scheiße«, murmelte er. Der Alte wusste, dass er es nur sagte, um den Klang einer menschlichen Stimme zu hören. »Das ist doch eine gottverlassene Welt.«
Dann vernahm er das Rauschen. Dieses Geräusch entstammte nicht seinem eigenen Innern. Da war etwas. Es wurde lauter. Gustav bildete sich ein, dass sich aus diesem Rauschen Worte formen wollten.
»Was?«, fragte er in das Nichts hinein. »Mama? Bist du das?«
Gustav wusste nicht, warum er das fragte. Hatte er denn überhaupt jemals eine Mutter gehabt? Er konnte sich nicht erinnern. Doch da waren diese Worte gewesen. Etwas Tröstendes, Beruhigendes hatte in diesen Worten gelegen, ein Klang, der fremd und doch so vertraut schien. Wie eine Sprache, die man nie gelernt hat und deren Worte man dennoch versteht.
Gustav rieb sich die Augen. Das Weiß schien sich aufzulösen, als würde es von einem schwarzen Loch eingesaugt. Es wurde dunkel. Gustav versuchte, in diesem Dunkel, das ihn plötzlich umgab, etwas wahrzunehmen. Gab es da etwas zu erkennen? Konturen schälten sich aus dem Nichts. Er blinzelte. Dann sah er ein Gesicht vor sich. Ein altes Gesicht, voller Runzeln, und ein Augenpaar, das ihn musterte und dessen Blick fest auf ihm ruhte.
»Was?«
Jakob Kratz lächelte. »Ich sagte – nein, diese Welt ist nicht von Gott verlassen, auch wenn es uns so erscheinen mag. Menschlichkeit, das ist es, was wir oft so schmerzlich vermissen.«
»Herr Kratz«, sagte Gustav. »Wo sind wir?«
»In Nideggen, mein lieber Herr Brenner. In Nideggen. Wo sonst?«
Gustav schaute sich um. Er stand mit dem alten Jakob Kratz am Waldrand, nahe der Seniorenresidenz. Es regnete, und ihm war kalt. Nun wusste er, dass es schon wieder einmal geschehen war. »Wundern Sie sich bitte nicht, Herr Kratz. Manchmal gehe ich herum und bin dabei nicht ganz bei
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