Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
necken und in ihren Armen zu wiegen.
Schließlich wurden zwei kleine Mädchen aus dem südlichen Teil der Insel ausgewählt – oder besser gesagt, sie wählten sich selbst, indem sie die richtigen Gegenstände aus dem Stapel herauszogen –, und Desta und Olva weihten sie, indem sie Olivenöl, mit rotem Ocker vermischt, auf ihrer Stirn verrieben und ihnen einen dicken Kuß gaben, während die Zuschauer jubelten und mit den Füßen stampften zum Zeichen ihrer Zustimmung. In der Zwischenzeit ging der Schlangentanz irgendwo anders weiter; tatsächlich hörte er niemals auf, und deshalb wurde in Itesh alles mit Trommelbegleitung getan.
Am dritten Tag hatte Marrah genug davon, nur Zuschauerin zu sein. Die ganze Nacht hindurch hatten die Trommeln in ihren Träumen gedröhnt, und sie hatte imaginäre Tänze von großer Schönheit vollführt. Es war mehr als enttäuschend, mit der Aussicht aufzuwachen, noch einen weiteren Tag auf der Plattform zubringen zu müssen, und als sie in dem kühlen Licht der Morgendämmerung lag und auf das Dröhnen der richtigen Trommeln lauschte, entschied sie, daß es nicht schaden könnte, noch einmal um Erlaubnis zum Tanzen zu bitten.
Sie ließ Stavan und Arang schlafend im Gästezimmer des Tempels zurück und machte sich auf den Weg zu Destas Haus. Sie fand es mühelos, nachdem sie eine Gruppe von Leuten mit glasigen, verquollenen Augen gefragt hatte, die auf den Strand zutaumelten, um dort zu schlafen und sich von den Auswirkungen des Schlangentanzes zu erholen, der – natürlich – noch immer im Gang war.
Das Haus der Königin des Ostens sah wie Dutzende anderer Häuser aus, wie ein Oval geformt, mit kopfsteingepflasterten Böden und roten Göttinnenzeichen über sämtlichen Türen, groß genug, um Destas Kinder und Enkelkinder zu beherbergen, aber in keiner Weise luxuriös. »Priesterin-Königin« war ein religiöser Titel, der den Frauen, die ihn trugen, zwar viele Pflichten auferlegte, doch mit wenig Ehren verbunden war. Im Austausch dafür, daß sie Olva dabei half, den Vorsitz über den Großen Inselrat zu führen und ihre Hälfte der Zeremonien abzuhalten, bekam Destra beim Schlangenfest einen guten Platz auf der Zuschauertribüne, aber weder sie noch Olva hatten einen Palast, geschweige denn Bedienstete oder irgendwelchen Luxus.
Sie arbeiteten wie alle anderen, und noch härter – sie webten und arbeiteten auf dem Feld und kochten und fischten und zogen Kinder auf und regierten –, und wenn sie zwanzig Jahre lang als Königinnen gedient hatten, erwartete man von ihnen, daß sie ohne Protest zurücktraten und die neuen Zwillingsköniginnen übernehmen ließen. Es wäre niemals irgend jemandem in den Sinn gekommen, daß sie Wächter an ihren Türen benötigten oder spezielle Kleidung oder delikates Essen. Die wunderschönen Roben und Schmuckstücke, die sie bei feierlichen Anlässen trugen, waren Eigentum des Tempels und würden an die nächsten Königinnen weitergegeben werden.
Marrah fand Desta bereits wach vor und damit beschäftigt, Holz in das Kochfeuer nachzulegen. Sie trug ein schlichtes Leinengewand, aber ihr Haar war schon zu der formellen Zopffrisur geflochten, die sie auf der Zuschauertribüne tragen würde.
»Was kann ich für dich tun?« fragte sie forsch, als sie Marrah in der Tür stehen sah. Hochrot im Gesicht vor Verlegenheit und mit zögernden Worten bat Marrah um die Erlaubnis, mit den anderen tanzen zu dürfen.
»Es ist nicht so, als wüßte ich die Ehre, auf der Zuschauertribüne zu sitzen, nicht zu schätzen«, erklärte sie. »Aber die Leute unten sehen alle aus, als hätten sie großen Spaß.«
Zu ihrer Erleichterung lachte Desta belustigt. »Nur zu«, sagte sie. »Geh ruhig tanzen, wenn du möchtest. Olva und ich wollten dich nicht gefangenhalten. Ich habe wohl gesehen, wie du dich in den Hüften gewiegt und mit den Füßen gezuckt hast. Wir haben dich wirklich genug geehrt, nicht? Ich hatte ganz vergessen, wie jung du bist. Weißt du, als ich in deinem Alter war, habe ich bei jedem Schlangenfest ein Paar Sandalen durchgetanzt. Aber an deiner Stelle würde ich dafür sorgen, daß sich mein kleiner Bruder nicht unter die Menschenmenge mischt. Ich weiß ja, er möchte auch tanzen, aber er ist zu jung und zu klein; es besteht die Gefahr, daß er versehentlich niedergetrampelt wird. Außerdem sind gewisse religiöse Bräuche mit dem Tanz verbunden, die einem Jungen seines Alters Unbehagen verursachen könnten.«
Sie lächelte. »Ich weiß, es wird
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