Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
oder dreißig Leute sein, alle als Riesenkinder verkleidet. Als sie an der Zuschauertribüne vorbeimarschierten, schüttelten sie ihre Rasseln und stimmten ein Lied an, wie sehr sie es liebten, an der Göttlichen Mutterbrust zu saugen.
Die Menge tobte vor Lachen, und Marrah, Arang und Stavan lachten mit und warfen Blumen auf die »Kinder«, die sich von Minute zu Minute unflätiger aufführten. Am anderen Ende der Plattform lachten auch Desta und Olva, die Zwillingspriesterinnen-Königinnen der Insel, und auch der Rat der Ältesten stimmte in das Gelächter ein. Den größten Teil des Jahres über war Itesh ein relativ geruhsamer Ort, aber während der Zeit des Festes war so ziemlich alles erlaubt.
Ansonsten stand niemand auf der Zuschauertribüne, was schade war, wie Marrah fand, denn nur von oben konnte man erkennen, wie lang die Schlange von Tanzenden tatsächlich war, und das farbenprächtige Schauspiel so richtig genießen, aber die zentrale Plattform war ein Ehrenplatz – eine solche Ehre, daß Marrah eine Mischung aus sehnsüchtigem Verlangen empfand, dort unten mitzutanzen, und Schuldbewußtsein und Verlegenheit, so hoch über die gewöhnliche Menge erhoben worden zu sein. Ihre Ehrenplätze hätten irgendeinem weisen alten Mann oder einer alten Frau gebührt oder einer Priesterin oder einer auswärtigen Dorfmutter, doch die Zwillingsköniginnen selbst hatten Marrah und ihre Begleiter auf die Plattform beordert, wobei sie auf ihre Pilgerhalsketten gezeigt und behauptet hatten, Marrah sei ihre Nichte, von ihnen beiden adoptiert, als sie kaum alt genug gewesen war, um den Kopf zu heben.
Das stimmte natürlich nicht ganz. Laut Sabalah hatten die Königin des Westens und die Königin des Ostens Marrah bei ihrer Geburt nur gesegnet und nicht etwa adoptiert, doch kein noch so heftiger Protest konnte Desta und Olva davon abhalten, sie mit Gastfreundschaft zu überhäufen. Es habe eine Prophezeiung gegeben, hatten sie Marrah kaum zehn Minuten nach ihrer offiziellen Begrüßung auf der Insel informiert: Die alte Yasha, die ehemalige Priesterin-Königin, die im letzten Winter verstorben war, hätte ihnen kurz vor ihrem Tod erklärt, daß Marrah käme und ihren Bruder und einen gelbhaarigen Geist mitbrächte. Nun ja, dieser Stavan wäre zwar eindeutig kein Geist, aber gelbes Haar hätte er ohne Zweifel. Ehrlich gesagt, er sei das größte, häßlichste Geschöpf, das sie seit langem gesehen hätten, vertrauten sie Marrah an, aber sie brauche sich keine Sorgen zu machen, weil sie beide all die wundervollen und seltsamen Dinge verehrten, mit denen die Göttin Ihre Erde bevölkert hatte. Hätte Desta nicht eine winzige, löwengelbe Wildkatze, absolut zahm und nicht größer als ein Kaninchen, die sie den ganzen weiten Weg aus den heißen Ländern des Südens mitgebracht hatte? Und besäße Olva, die die Oberpriesterin des westlichen Tempels war und gleichzeitig die Königin des Todes und des Wassers, nicht einen merkwürdigen Echsenschädel, der als eine besondere Kostbarkeit im Tempel ausgestellt war, damit alle ihn sehen und bewundern konnten, einen Schädel, größer als zwei ausgewachsene Männer, der möglicherweise einst der Göttin Erde selbst gehört hatte in jenen lange zurückliegenden Tagen, als sie häufig Tiergestalt annahm, um unter den Wesen zu wandeln, die sie geschaffen hatte?
Rhoms Vettern und Kusinen konnten tun, was ihnen gefiel, aber Marrah, Stavan und Arang blieb nichts anderes übrig, als den Ehrenplatz auf der Tribüne anzunehmen. Alles andere kam nicht in Frage. Jeder Einwohner der Stadt Itesh wäre beleidigt gewesen, von ärgerlich ganz zu schweigen, wenn man ihn der Chance beraubt hätte, den gelbhaarigen Fremden anzugaffen. Und es war nicht gut, die Leute zur Zeit des Schlangenfests zu verärgern, weil es Unglück bedeutete. Es war allgemein bekannt, daß böse Gefühle Hessa dazu bringen konnten, ihren Körper zu ringeln und ein Erdbeben auszulösen, das Häuser einstürzen ließ und die Boote im Hafen versenkte.
Stavan, der nicht im geringsten darüber beleidigt war, als groß und häßlich bezeichnet zu werden, hatte gelächelt über die verrückte Idee, daß sich die Erde unter ihnen wie eine Schlange bewegen könnte, aber Marrah hatte die Warnung ernst genommen. Sabalah hatte ihr manchmal von Erdbeben erzählt, und außerdem hatte sie schon vor langer Zeit gelernt, daß es von Vorteil war, aufmerksam zuzuhören, wenn große Priesterinnen in Stimmung für Weissagungen waren. Abgesehen
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