Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
spuckte Arang das Blatt wieder aus. »Tut mir leid. Du hast recht. Das war dumm von mir. Zumindest haben die Samen eine ganze Menge von dem Zeug ergeben.«
Marrah überlegte. Arang hatte recht. Es wuchsen tatsächlich reichliche Mengen von beiden Pflanzenarten. Warum hatte sich Stavan die Zeit genommen, so viele Samen zu sammeln, wenn er sich doch eigentlich hätte beeilen müssen, um seinen Stamm vor Einbruch des Winters zu finden? Ob er glaubte, sie würde so viele Heilkräuter brauchen? Hoffentlich nicht, dachte sie. Aber vielleicht hatte sie seine Botschaft auch mißverstanden.
Die Zeit verging, und die Tage wurden heißer. Die gelben Blumen und die Minze waren erst knapp eine Woche zuvor geerntet und zum Trocknen im Lagerraum des Tempels aufgehängt worden, als weitere Boten aus dem Norden kamen. Diese waren keine Bauern vom Rande der Welt, sondern Gesandte aus der Stadt Shambah. Sie kamen zu zweit; der eine war ein schwächlich wirkender junger Mann von vielleicht siebzehn Jahren, der andere ein Junge, der etwa ein Jahr jünger als Arang sein mochte. Sie trugen zeremoniellen Schmuck und die feinen Leinengewänder, für die Shambah berühmt war, aber ihr Erscheinen hatte nichts Festliches an sich. Sie gingen langsam, während sie sich gegenseitig stützten, und ihre Gesichter waren bleich, von kleinen runden Narben gezeichnet, die wie Wassertropfen auf Staub aussahen.
»Sie sehen krank aus«, flüsterte Arang Marrah zu, als die Ge-sandten auf dem Weg ins Zentrum der Stadt an ihnen vorbeikamen, doch er irrte sich: Sie waren diejenigen, die noch relativ wohlauf waren.
Die Gesandten kletterten auf die öffentliche Plattform und forderten das Recht zu sprechen, indem sie eine kleine Statue von Batal mit den Lippen berührten. »Wir grüßen die Leute von Shara im Namen der Leute von Shambah«, rief der Junge der Menge zu, die sich um die Plattform versammelt hatte. Es war sehr ungewöhnlich für einen Jungen seines Alters, Gesandter zu sein, und man merkte ihm seine Nervosität an. Seine Stimme klang zittrig und schwach.
»Ich bin Nacah, Enkel der Priesterin-Königin Aimbah und Sohn ihrer jüngsten Tochter, Dashlah. Dies ist der Bruder meines Aitas, Cyen.« Er schluckte hart und biß sich ängstlich auf die Lippen. »Ich weiß, ich sollte eine lange Rede darüber halten, wie froh Cyen und ich sind, hier zu sein, aber ich kann es nicht. Wir sind glücklich, in Shara zu sein, doch, das sind wir wirklich, aber ich wurde nicht zum Gesandten ausgebildet. Keiner hat mir jemals beigebracht, wie man das macht. Ich war nur der einzige aus der Familie meiner Großmutter, dem es gut genug ging, um die Reise zu unternehmen, und wie ihr sehen könnt, sind Cyen und ich beide krank gewesen. Ich glaube nicht, daß einer von uns schon wieder richtig gesund ist. Auf dem Weg die Küste hinunter hat sich Cyen mindestens ein dutzendmal erbrochen.« Er brach verlegen ab, feuerrot im Gesicht. »Tut mir leid. Ich mache alles falsch.«
Lalah bedeutete den Leuten mit einer Geste, nicht zu lachen, als sie aus der Menge heraustrat, die Fingerspitzen zusammenlegte und den Jungen mit so viel Respekt begrüßte, als wäre er ein alter Mann. »Willkommen in Shara, Enkelsohn von Aimbah. Ich bin die Mutter dieser Stadt. Mach dir nicht die Mühe, höflich zu sein; sag uns einfach, was wir für euch tun können.«
Der Junge schluckte und erwiderte die förmliche Verbeugung. »Wir brauchen deine Hilfe, Mutter«, sagte er, und dann fing er plötzlich an zu weinen – etwas noch nie Dagewesenes für einen Gesandten –, aber er war sehr jung und sehr verängstigt. »Meine Mutter ist tot, und meine Großmutter liegt im Sterben. Alle in Shambah sind krank, und außer mir und Cyen ist kaum einer darunter, dem es wieder besser geht. Wir nehmen an, daß wir etwas Schreckliches getan haben müssen, um einen solchen Fluch über unsere Stadt zu bringen, aber unsere Priesterinnen können nicht herausfinden, warum uns die Göttin so hart bestraft.«
»Nun, nun«, meinte Lalah beschwichtigend. »Laß dir nur Zeit, Kind. Natürlich bist du aufgeregt und verstört. Das hört sich ja schrecklich an, was du erzählst. Weine ruhig, und wenn du dich beruhigt hast, erzählst du uns mehr.«
Der Junge schniefte, wischte sich die Tränen ab und blickte sie hoffnungsvoll an. »Es ist furchtbar, liebe Mutter. Und das Schlimmste ist, daß wir gewarnt wurden, aber nicht auf die Warnung gehört haben. Im letzten Herbst kamen zwei Bäuerinnen aus einem Dorf weit im Norden
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