Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
ein Zwerg vor, und sie konnte sich ohne weiteres vorstellen, wie die Bäume hoch oben über ihrem Kopf miteinander sprachen, sich Geheimnisse zuflüsterten, die kein Mensch hören durfte.
Alles im Wald schien sich von der Welt draußen zu unterscheiden. Wenn sie am Fluß entlanggingen, mußten sie sich oft durch Dornengestrüpp, wilde Ranken, dichtes Buschwerk und Weidendickichte kämpfen, aber sobald sie unter dem Laubdach der Bäume wanderten, gingen sie auf einem weichen Teppich aus knöchelhoch liegenden Blättern, der ihre Stimmen und das Geräusch ihrer Schritte dämpfte. Bei jedem Schritt versanken ihre Füße, und wenn sie sie hoben, wirbelten sie Blätter auf und erzeugten dabei ein sanft raschelndes Geräusch, das wie das Murmeln von unsichtbaren Bächen klang.
Die Bäume selbst verströmten einen eigenartig modrigen Geruch, der Marrah an Pilze und faulende Blätter erinnerte und an die Kräuter, die Sabalah in ihrem Medizinbeutel aufzubewahren pflegte, und manchmal roch sie noch einen anderen Geruch, einen süßen, schweren Duft, der von irgendeiner unsichtbaren Blume stammen mußte, die hoch über ihren Köpfen blühte.
Aber das Erstaunlichste war die tiefe Stille des Waldes. Bis auf den Klang ihrer eigenen Stimmen, die Warnrufe der Eichelhäher und das gelegentliche Keckem eines Eichhörnchens wanderten sie in absoluter Stille dahin. Es war so unermeßlich still, daß sie sich von Zeit zu Zeit dabei ertappten, wie sie sich im Flüsterton unterhielten, als wären die Bäume schlafende Riesen, die man nicht stören durfte. Wann immer dies geschah, begann Rhom ein Lied anzustimmen, aber ganz gleich, wie laut er sang, der Wald verschluckte seine Stimme. Wenn er die letzte Strophe beendet hatte, zog er eine kleine Knochenflöte aus seiner Tasche und spielte eine fröhliche Melodie.
Und dabei beschleunigte sich sein Schritt unwillkürlich, und manchmal tanzte Arang vor ihnen auf dem Pfad, als führte er sie zu irgendeinem Fest.
An den meisten Abenden schwelgten sie tatsächlich bei einem Festmahl, denn wenn Stavan einen Pfeil abschoß, verfehlte er nur selten sein Ziel. Fast jeden Abend, nachdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, wanderte er mit seinem Bogen davon, um bald darauf mit ein paar fetten Kaninchen oder einigen wohlgenährten Enten zurückzukommen. Manchmal schoß er sogar Fische und transportierte sie auf einem angespitzten Stock aufgereiht zurück. Einmal erschien er zur Verzweiflung aller anderen mit der Zunge und der Leber eines Hirsches.
»Was hast du mit dem Rest des Fleisches gemacht?« rief Shema empört. Marrah übersetzte, und Stavan zuckte die Achseln und erklärte, daß er es natürlich zurückgelassen hätte. »Der Hirsch war viel zu schwer, als daß ein Mann allein ihn hätte tragen können, und wir brauchen ihn nicht; es gibt große Mengen Rotwild im Wald. Wir könnten jeden Tag Hirschzungen essen, wenn wir wollten.«
Als Marrah ihm erklärte, daß es einer Beleidigung der Göttin gleichkam, nicht jedes Teil des Tieres zu verwerten, blickte er sie nachdenklich an. »Sag Shema, es tut mir leid, daß ich sie aufgeregt habe. Ich werde keine weiteren Hirsche mehr erlegen, wenn du es nicht willst.«
Marrah war jedoch immer noch nicht davon überzeugt, daß er verstanden hatte, deshalb bestand sie an jenem Abend darauf, neben ihm zu sitzen und ihm zu erklären, wie Tiere gejagt wurden.
»Zuerst«, begann sie, »bitten wir das Tier um Verzeihung. Dann erlegen wir es. Und dann danken wir ihm dafür, weil es uns sein Leben geschenkt hat, damit wir Nahrung haben. Wenn es zum Beispiel ein Hirsch ist, würden wir sagen: ›Bruder Hirsch, ich danke dir, daß du mir zu essen für meine Familie gibst.‹ Wir töten grundsätzlich nicht mehr Tiere, als wir essen können, und wir verwerten alles: Haut, Fleisch, Innereien, sogar die Hufe und das Geweih, aus denen wir Löffel oder Becher schnitzen oder die wir zu einer Art Paste mahlen. Wenn noch etwas von dem Fleisch übrigbleibt, trocknen wir es oder verschenken es an andere, selbst wenn es bedeutet, daß wir bis zum nächsten Dorf gehen müssen, aber wir schneiden niemals die besten Teile heraus und lassen den Rest liegen, um ihn verderben zu lassen. Tiere sind uns heilig; sie sind genauso Kinder der Göttin Erde, wie wir es sind.«
Stavan hörte ernst zu. »Ich werde jagen, auf welche Weise auch immer du möchtest«, sagte er so höflich, daß sie sicher war, er hatte dennoch nicht begriffen, worauf sie hinauswollte. Frustriert gab sie es
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