Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
war, hatte Marrah schon beinahe wieder vergessen, aber dank Stavan war ihr klar geworden, daß Vergessen gefährlich war. Er war durch die wilden Wälder im Norden gewandert, und als er sie warnte, daß sie möglicherweise Wolfsrudeln, Wildschweinen, Bären und – am schlimmsten von allen – Löwen begegnen konnten, war sie geneigt, ihm zu glauben. Sie hatte bisher niemals etwas Größeres als eine Wildkatze gesehen, aber sie hatte einmal Löwenklauen an der Halskette einer Priesterin baumeln sehen, die diese von einem Händler im Austausch für mehrere Körbe seltener Kräuter bekommen hatte. Sie waren brutal, so lang wie die Finger eines Mannes und so scharf wie Nadeln, und der Gedanke, daß ein Tier mit solchen Klauen jagen konnte, ohne ein Geräusch dabei zu machen, behagte ihr gar nicht.
Arang hatte recht. Stavan wußte sehr viel mehr über den Wald als einer von ihnen. Er könnte tatsächlich einen ausgezeichneten
aita
für Arang abgeben, aber sie würde sichergehen müssen, daß er ihrem kleinen Bruder nichts über Dinge wie Krieg und Konkubinen erzählte. Marrah wanderte weiter, während sie über die Angelegenheit nachdachte, und hielt nur gelegentlich lange genug inne, um einen argwöhnischen Blick über ihre Schulter zu werfen. Plötzlich erschien ihr der Wald nicht mehr so friedlich und sicher wie noch vor einer Weile.
Stavans Warnung war keinen Moment zu früh erfolgt. Ein paar Nächte später fuhren sie erschrocken aus dem Schlaf hoch, überzeugt, sie hätten irgendein großes Tier gehört, und am Morgen bestätigte Stavan, daß ein Bär um das Lager herumgeschlichen war. Zum Glück hängten sie die Körbe mit den Vorräten immer so hoch auf, daß ein Bär sie nicht erreichen konnte, und nachdem er ein paarmal seine Krallen an einem Baumstamm geschärft hatte, war er offensichtlich entmutigt wieder abgezogen, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten.
»Wir hatten noch nie Schwierigkeiten mit großen Tieren«, meinte Rhom gelassen, als sie an diesem Morgen wieder aufbrachen. »Es sind die kleinen, auf die man sorgsam achten muß. Die Bären finden um diese Jahreszeit genug zu fressen, aber man muß ein scharfes Auge auf Eichhörnchen behalten, weil die kleinen Kerle es fertigbringen, einen ganzen Vorratskorb leerzufressen, wenn man ihnen den Rücken zukehrt.«
Als Marrah sah, wie unbesorgt die Händler waren, entspannte sie sich wieder. Vielleicht waren die Wälder entlang des Ibai Nabar doch nicht so gefährlich wie die, die Stavan durchwandert hatte. Aber gerade, als sie sich wieder sicherer fühlte, wachte sie plötzlich mitten in der Nacht auf. Diesmal war keinerlei Geräusch zu hören, nicht ein Laut, noch nicht einmal das Zirpen einer Grille. Der Fluß floß träge und still dahin, und selbst das Band von Sternen, das über ihnen am Himmel stand, schien unnatürlich hell und unbewegt zu schimmern.
Als Marrah wachsam hinter das matte Licht des Lagerfeuers spähte, glaubte sie, ein großes Tier im Gebüsch hocken zu sehen, das die schlafende Gruppe beobachtete. Das Tier, was es auch sein mochte, verhielt sich so reglos, daß sie sich zuerst nicht sicher war, ob es tatsächlich lebendig oder nur ein Baumstamm war, der sich in ihrer Einbildung in einen Löwen verwandelte. Dann flackerte das Feuer plötzlich auf, und sie sah zwei glänzende gelbliche Augen, so kalt wie der Tod, die sie geradewegs anstarrten. Mit einem lauten Schrei sprang Marrah auf die Füße, riß einen brennenden Ast aus dem Feuer und schleuderte ihn in die Schatten, doch innerhalb dieser wenigen Sekunden war das Tier schon wieder verschwunden.
Stavan war augenblicklich an ihrer Seite, in der einen Hand sein langes Messer, in der anderen seinen Dolch, aber als sie auf die Stelle zeigte, wo das Tier gelauert hatte, war keine Spur mehr von ihm zu sehen. Nachdem sie den Umkreis des Lagers abgesucht hatten, so gut es ging, verbrachten sie eine ungemütliche Nacht, während sie eng um das Feuer zusammengekauert saßen, zu verängstigt, um sich wieder schlafen zu legen. Am nächsten Morgen bestätigte Stavan, daß etwas Schweres im Gras gesessen hatte, aber es gab keinerlei Fußabdrücke, noch nicht einmal einen umgekippten Stein.
»Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es ein Löwe war, aber es könnte durchaus sein«, warnte er sie. »Löwen jagen gewöhnlich bei Tag, aber es war garantiert kein Eichhörnchen, das diese Gräser plattgedrückt hat. Was immer es war, wog fast so viel wie ein Bär, und Bären haben keine gelben
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