Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
drei Frauen, zwei Männer. Der Anblick der Frauen beruhigte sie etwas. Sie runzelte die Stirn und kaute auf ihrer Unterlippe. Eine der Frauen hatte etwas Vertrautes an sich – irgend etwas an ihrer Kopfhaltung kam Lalah bekannt vor. Einer der Männer sah ebenfalls vertraut aus.
Die Reiter durchquerten den Fluß an der üblichen Stelle, wandten sich landeinwärts und strebten direkt auf die Stadt zu, während sie die überzähligen Tiere vor sich hertrieben. Der Mann, der an der Spitze des Trupps ritt, hatte merkwürdig gelblich-weißes Haar, das an ausgeblichene Knochen erinnerte, wie auch die kleinste der Frauen. Die anderen drei sahen mehr oder weniger wie die Bewohner der Küste aus, außer daß eine der Frauen offensichtlich schwanger war. Lalah starrte auf den Bauch der schwangeren Frau und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Dann nahm sie das Gesicht der Fremden ins Visier, und ein prickelndes Gefühl der Erregung durchlief sie. Nein, das kann einfach nicht sein, dachte sie. Ich muß mich täuschen. Die Frau kann doch unmöglich ... Plötzlich entrang sich ihren Lippen ein lauter Freudenschrei, der alle um sie herum erschrocken zusammenfahren ließ.
»Marrah!« rief sie. »Barrash, Tarrah, seht doch nur! Da ist Marrah, und das muß Arang sein, der neben ihr reitet! « Inzwischen hatten auch andere Leute die beiden erkannt und stimmten in ihren Ruf ein, aber Lalah hielt jetzt nichts mehr auf dem Dach. Sie rannte zur gegenüberliegenden Seite, stemmte sich über den Rand und kletterte so schnell den Leiterbaum hinunter, daß sie nur aufgrund eines Wunders sich dabei nicht das Genick brach.
Später konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, ob sie durch die Stadt gelaufen war oder außen herum. Sie wußte nur, daß sie plötzlich über die Weide stürmte und daß die Pferdetiere geradewegs auf sie zudonnerten. Wenn sie bei Vernunft gewesen wäre, hätte sie erkannt, daß sie Gefahr lief, von den Ungeheuern niedergetrampelt zu werden, aber sie war zu glücklich, um sich darum zu kümmern, und die Göttin und das Glück beschützten sie.
Sie hörte das Stampfen der großen Füße der Tiere, als die vordersten an ihr vorbeigaloppierten. Marrah und Arang riefen ihr zu, vorsichtig zu sein, doch Lalah rannte unbeirrt weiter. Die Reiter brachten ihre Tiere so abrupt zum Stehen, daß Klumpen von Erde in alle Richtungen flogen; die seltsamen Geschöpfe bäumten sich auf den Hinterbeinen auf und schlugen mit schwarzen Hufen, die so hart wie Stein aussahen, durch die Luft. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, kroch Lalah unter ihren Bäuchen hindurch und preßte sich an die gewaltige, bebende Flanke von Arangs Tier. Der Geruch seines Schweißes stieg ihr in die Nase. Und da war auch noch ein anderer Geruch: seltsam und süß und fremd. Lalah griff nach Arangs Beinen und hielt sie so fest umklammert, als wollte sie sie nie mehr loslassen. Dann rannte sie zu Marrah und umarmte auch ihre Beine, und als sie aufblickte, sah sie mit Gewißheit, daß Marrah schwanger war und von der Göttin gesegnet.
»Großmutter «, rief Marrah, und sie lachte übers ganze Gesicht, während gleichzeitig Tränen über ihre Wangen strömten. Sie kletterte langsam herab, ließ sich mit der plumpen Grazie einer Frau zu Boden, die ein Kind erwartet. Dann streckte sie die Arme nach Lalah aus und drückte sie an sich, und Arang umarmte Lalah von der anderen Seite; alle drei jauchzten halb närrisch vor Wiedersehensfreude.
Lalah preßte sich mit ihrem Körper gegen Marrahs dicken, gespannten Bauch. Sie nahm Arangs Gesicht in beide Hände und küßte ihn, und er erwiderte ihren Kuß. Bis die freudige Begrüßung schließlich beendet war, waren alle drei mit grüner Farbe beschmiert.
Lalah blickte auf die Farbflecken auf Marrahs Oberlippe und die grünen Streifen an Arangs Kinn. Sie band ihren Gürtel auf, löste den Farbkrug und hielt ihn ihren Enkeln entgegen wie einen Begrüßungstrunk. »Willkommen zu Hause, meine Herzenskinder! « verkündete sie strahlend.
Manchmal, wenn man die Große Schlange der Zeit reitet, dreht sie ihren göttlichen Körper herum, man rutscht von einer Windung zur anderen und kehrt in die eigene Vergangenheit zurück. Für die meisten Menschen sind diese Augenblicke so schnell vorbei, daß sie ihnen wie ein Traum erscheinen; aber als Marrah in die Stadt Shara ritt, erlebte sie etwas Seltenes und Wundervolles: In der Welt, die sie hinter sich gelassen hatte, war alles wie gewohnt weitergegangen, so
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