Altherrensommer
zwischen Orangenkisten, nackter Glühbirne an der Zimmerdecke und Matratzenlager auf dem Fußboden in Kauf nahmen. Fassungslos drehen sie heute die Einladung der Universität ihres Kindes in Händen, zu einem »Schnuppertag für Eltern« auf den Campus zu kommen! Kopfschüttelnd bleiben sie vor dem Plakat der Edel-Disco stehen, Samstag sei »Elternabend«. Der DJ lege Oldies auf und das erste Getränk sei für alle Ü-Fifties gratis!
»Und? Was machen die Kinder?« Während Papa auf dem Höhenwanderweg noch darüber nachdenkt, warum schon seit Stunden niemand seiner Freunde nachfragt, was er denn so macht oder gemacht hat – einen Carport errichtet, zwei Zahnimplantate bekommen, drei kaputte Fahrräder flottgekriegt, vier knifflige Vereinssitzungen geleitet –, denkt Mama darüber nach, ob ihre Kinder einverstanden wären, wenn sie jetzt die schlichte Wahrheit sagen würde: »Och, im Moment eigentlich nichts.« Tochter Julia ist nach der Auflösung ihrer Berliner WG nämlich »erstmal« wieder zu Hause eingezogen und Sohn Konstantin hat sein Abendstudium abgebrochen, als ihm ein lukratives »Projekt« für Softwareentwicklung in Aussicht gestellt wurde. Anders als Papas präzis datierbare Pensionierung – die er in versöhnten Momenten mit Redewendungen wie »Rubikon überschritten«, »die Würfel sind gefallen« oder »Klappe zu, Affe tot« umschreibt – ist Mamas Zeitangabe »die Kinder sind jetzt aus dem Haus« eine vorläufige und vage Information. Möglicherweise meint sie damit eine mehrjährige wechselvolle Zeitspanne mit offenem Ende. Denn so richtig und für immer gehen die heute jungerwachsenen
Kinder selten aus dem Haus. Kaum ein Mensch erinnert sich noch daran, dass das vielzitierte, beinah sprichwörtlich gewordene »Hotel Mama« der Titel eines Kinderbuches von Evelyn Sanders ist. 1998 hieß das noch »Hotel Mama, vorübergehend geschlossen«. Inzwischen wissen alle, wie unfreiwillig prophetisch der Nachsatz war. Vorübergehend, es ist nur vorübergehend geschlossen.
»Und? Was machen die Kinder?« Die machen gerade »ewige Post-Adoleszenz«. Und ihre alten Eltern sind damit mehr oder weniger einverstanden. Traditionell teilte die entwicklungs-psychologische und pädagogische Fachliteratur das Heranwachsen eines Menschen in drei Phasen ein: Kindheit, Pubertät und Adoleszenz. Von 0 bis 12, von 12 bis 16, von 16 bis 24. Grob gerechnet. Seit Computer und Fernsehgerät im Kinderzimmer angekommen sind, das Eintrittsalter für den Kindergarten auf zwei Jahre abgesenkt wurde und sich der Kindergarten vom ersten Tag an als »Vor-Schule« versteht, fand eine drastische Verkürzung der Kindheit statt. Kleinkinder beschäftigen sich mit Grundschulwissen, Grundschülerinnen bekommen mit 9 die erste Monatsregel, Jungen im Alter von 11 Jahren tauschen Pornofilme auf ihren iPods aus. Am anderen Ende des Zeitstrahls, ab Mitte Zwanzig, verzögert sich der Eintritt in ein eltern-unabhängiges, selbstständig verantwortetes Berufs- und (Ehe-)Leben immer weiter. Endet die Kindheit immer früher und beginnt das Erwachsensein immer später, dann dehnt und verlängert sich vom etwa zehnten bis zum dreißigsten Lebensjahr eine Entwicklungsphase, in der die Identität wacklig, die Rolle unbestimmt und der Platz auf der Welt noch weitestgehend unentdeckt sind. Die vielleicht populärste Kurzbeschreibung dieses Lebensgefühls
lieferte Richard David Precht mit seinem Buchtitel »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?« – Und die vielleicht populärste Inkarnation dieses Lebensgefühl ist der ewig postpubertäre Boris Becker.
Als am 15. September 2010 die 16. Shell-Jugendstudie herauskam – eine Befragung von demographisch repräsentativ ausgewählten 2500 Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren –, da gaben 69% zu Protokoll, sie seien mit ihrer Erziehung »sehr zufrieden«. 44 Na bitte. Friedliches Einverständnis allenthalben, pragmatische Zufriedenheit, so weit das Auge reicht? Ich weiß nicht so recht. Hatte nicht der Herausgeber der Shell-Jugendstudie und Professor für Sozialwissenschaften, Dr. Klaus Hurrelmann, vor einer »Enteignung der Jugendsphäre durch die Eltern« gewarnt, wenn diese durch allzu viel Anbiederung und Kumpelhaftigkeit es ihren Sprösslingen immer schwerer machten, sich »abzugrenzen«. 45 (Wofür in Papas und Mamas Generation bereits ein Che-Guevara-Poster an der Wand und das laute Mitsingen des Rolling-Stones-Liedes »Let’s spend the night together« ausgereicht hatten.) Was aber, wenn die
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