Am Anfang eines neuen Tages
nicht gerade leicht.“
„Gebet ist nicht nur, wenn wir um etwas bitten. Zum Beten gehört auch, dass man sich Zeit nimmt, zu hören, was Gott sagt, wie bei einem guten Gespräch. Wenn wir endlich aufhören zu reden und zu fordern und um Dinge zu betteln, ist es leichter zu hören, was Gott uns zu sagen versucht. Probieren Sie es aus, Josephine. Und bitte lesen Sie die Geschichte zu Ende.“
„Das Ende habe ich schon gelesen. Gott hat dafür gesorgt, dass Hiob alles wiederbekommt. Soll er sich deshalb besser fühlen? Gott hat ihm sogar neue Kinder gegeben, aber das lindert bestimmt nicht seinen Schmerz über den Verlust der Kinder, die er hatte. Meine Mutter versucht auch alles zurückzubekommen, was sie verloren hat, und ich habe ihr gesagt, dass sie etwas versucht, was unmöglich ist. Glauben Sie allen Ernstes, dass Gott ihr einen neuen Ehemann gibt, der meinen Vater ersetzt? Oder einen neuen Sohn als Ersatz für Samuel?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Ich glaube, von jemandem, dessen bisherige Gebete in keinster Weise erhört worden sind, zu verlangen, dass er weiterbeten soll, ist zu viel verlangt.“
„Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, Josephine, oder ob ich es überhaupt tun soll …“
„Sagen Sie es einfach.“
„Ich glaube, ich weiß, warum Ihre Gebete nicht so beantwortet wurden, wie Sie sich das vorgestellt hatten.“
„Ist das wahr?“ Jetzt blickte sie zu ihm auf und mit einem Mal erschien er ihr um Jahre älter und weiser, als es sein Recht war. Er legte eine innere Gelassenheit und Zielstrebigkeit an den Tag, die sie nicht verstand. Sie hatte sie auch an dem Tag gesehen, als er sich um Harrison gekümmert und die Blutung gestillt hatte und dann losgeritten war, um den Arzt zu holen. Jetzt blickte er auf das Feld hinaus, auf die frisch gepflügte Erde mit ihren Furchen, auf die Männer, die über ihre Arbeit gebeugt waren, und sie glaubte ihm, dass er die Antwort kannte – im Gegensatz zu Hiobs furchtbaren Freunden. „Sagen Sie es mir“, forderte sie ihn auf.
Er schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie schon dazu bereit sind, den Grund zu akzeptieren.“
„Was soll das denn bedeuten? Soll ich noch mehr leiden, bevor ich bereit bin, den Grund dafür zu erfahren? Oder wollen Sie wie Hiobs Freunde sein und mir sagen, dass ich eine große Sünde begangen haben muss und dies Gottes Methode ist, mich zu bestrafen?“
„Es hat gar nichts mit Sünde zu tun. Wir sündigen alle – im Norden wie im Süden, Männer wie Frauen, wir alle.“
„Warum hat Gott meine Gebete dann nicht erhört?“
Er drehte sich um und sah sie an. „Also gut, ich werde Ihnen sagen, was ich für den Grund halte. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie mir nicht sofort widersprechen. Versprechen Sie mir, dass Sie erst ein paar Tage lang darüber nachdenken und wir uns dann weiter unterhalten. Versprochen?“
Widerstrebend willigte sie ein. Mr Chandler legte eine Hand auf ihre Schulter und drehte sie sanft zu den Baumwollfeldern um. „Schauen Sie mal. Sehen Sie die Menschen, die da draußen arbeiten?“
Josephine sah Schwarze, die pflügten, rechten, arbeiteten. Es war ein vertrauter Anblick, wie sie ihn schon unzählige Male in ihrem Leben gesehen hatte. Sie wurde ungeduldig. „Natürlich.“
„Was glauben Sie, wofür sie während des Krieges gebetet haben – und sogar bevor der Krieg anfing?“
Jo wusste, was er hören wollte, aber sie war zu eigensinnig, um ihm zu antworten.
Er tat es an ihrer Stelle. „Ich glaube, sie haben für dasselbe gebetet wie die Israeliten, als sie Sklaven in Ägypten waren – sie wollten frei sein. Sie wollten, dass ihre Kinder ihnen gehören und nicht ihren Herren. Sie wollten Hoffnung und eine Zukunft hier auf der Erde und nicht nur im Himmel. Meinen Sie nicht?“
Josephine hatte gelernt, dass Gott die Schwarzen dazu geschaffen hatte, körperliche Arbeit zu verrichten. Der Fluch Kanaans lag auf ihnen und sie waren dazu bestimmt, den Weißen zu dienen. Aber das war gewesen, bevor sie sich mit Lizzie und Roselle angefreundet hatte, bevor sie Seite an Seite mit ihnen und Mrs Blakes Dienstmädchen gearbeitet hatte. Im tiefsten Innern wusste sie, dass das, was sie ihr Leben lang geglaubt hatte, falsch war. „Wahrscheinlich“, gab sie zu.
„Gott hat die Gebete dieser Sklaven gehört und er hat Ihre Gebete gehört. Wissen Sie irgendeine Lösung, wie er beide Seiten erhören und beiden das geben sollte, was sie wollten?“
„Das heißt, der
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