Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
Vom Netzwerk:
gekommen.
    Morgen würde ich Krach schlagen, soviel war sicher.
    Kathrin und Sabine fielen mir ein. Die würden sich bestimmt auch Sorgen machen, wenn ich nicht bald auftauchte. Es war halb vier, in ein paar Stunden sollte ich wieder in der Bank sitzen.
    »Ich muß jetzt gehen«, sagte ich und stand auf.
    Rilke lächelte mich an. »Wenn du jetzt pennst, bist du morgen viel fertiger, als wenn du durchmachst.«
    Wie ferngesteuert setzte ich mich wieder hin. Ein Blick durch die kleinen, runden Brillengläser, und alle Kraft wich aus meinem Körper. Meine Arme und Beine fühlten sich an wie aus Gummi. Am liebsten hätte ich mich auf seinem Schoß zusammengerollt und geschnurrt.
    Du blöde Kuh, dachte ich, der Typ ist fünfzehn Jahre jünger als du. Außerdem bist du nur eine übergewichtige, langweilige Hausfrau. Du stehst jetzt auf und gehst.
    »Du hast recht«, hörte ich mich sagen, »kann ich noch ein Bier haben?«

    Hartmann sprang auf und holte mir eine Flasche. Ich hatte seine Kopfwunde versorgt und aus den Tiefen meiner Handtasche den Eisbeutel hervorgezaubert, den ich seit dem ZZ-Top-Konzert bei mir trug. Nach zehn Minuten im Gefrierfach kühlte er jetzt Hartmanns Beule.
    »Ich hau mich hin«, verabschiedete sich der, »ich muß noch ’ne Runde pennen.«
    »Ich geh auch ins Bett.«
    Nicki, der keinen Ton mehr von sich gegeben hatte, seit wir in der Wohnung angekommen waren, reichte mir die Hand. »Danke«, murmelte er und schlich aus der Küche.
    Ich stellte mir vor, wie er am nächsten Tag seinem Vater die zerdellte Karre zurückbringen würde; der Spaß würde seinen alten Herrn einiges kosten.
    Rilke saß da, schwieg und schaute mich an. Mir wurde unbehaglich. Wie war es möglich, daß ein junger Kerl mich so in Verlegenheit bringen konnte?
    »Wohnt ihr alle hier?« fragte ich, um das Schweigen zu durchbrechen.
    Er nickte. »Und woher kommst du?«
    »Ich versuche gerade herauszufinden, wie lange man von einer Reihenhaussiedlung bis in den Frauenknast braucht. Schätze, ich bin in zwei Tagen schon ziemlich weit gekommen.«
    »Wußtest du, daß es Bambusarten gibt, die an einem Tag einen halben Meter wachsen?« fragte er unvermittelt.
    Verblüfft sah ich ihn an. »Wie kommst du denn darauf?«
    Er zuckte die Schultern. »Nur so.«
    »Studierst du Biologie?«
    Er schüttelte den Kopf. Dann stand er auf und begann, hin und herzugehen. Drei Schritte in die eine, drei Schritte in die andere Richtung. Ich folgte ihm mit dem Blick.

    Plötzlich begann er, etwas zu rezitieren.

    »Ich seh euch, tanzende Gestalten, im sanften Licht an mir vorüberschwirren, durch unsichtbare Fäden fest verknüpft mit dieser Welt.
    Ihr dreht euch, nach geheimnisvollen Regeln, gleich einem Sternennebel endlos fern.
    Was mag es sein für eine Kraft, die euch bewegt und hält?«
    »Ist das von dir?« fragte ich überrascht.
    Er blieb stehen. »Kann sein. Ich hab so viele Gedichte im Kopf, daß ich manchmal vergesse, von wem sie sind.«
    Er setzte sich wieder neben mich, nahm einen Schluck Bier, und für einen Moment wurde sein Blick so abwesend, daß ich am liebsten gerufen hätte: Komm zurück!
    »Also, du fährst Taxi, du schreibst Gedichte, was machst du noch?« setzte ich die Unterhaltung fort.
    »Tausend Jobs zum Geldverdienen. Und Musik.«
    »Was für Musik?«
    »Gute Musik, natürlich. Richtige Musik. Nicht so einen Scheiß, wie er heute gemacht wird.«
    Er sprang auf. »Komm mit!«
    Ich folgte ihm in sein Zimmer. Eine Matratze auf dem Boden, eine Kleiderstange neben dem Fenster, Bücher bis unter die Decke, eine Glasplatte auf zwei Böcken als Schreibtisch, obendrauf ein PC. Im ganzen Zimmer ein Verhau aus Schallplatten, CDs und Kassetten, eine gigantische Stereoanlage, in der Ecke eine Gitarre. Die Wände waren völlig weiß. Keine Poster, Bilder oder Fotos, nicht mal ein Notizzettel. Er legte eine Kassette ein, drückte mir ein paar Kopfhörer in die Hand. Ich setzte sie auf und hockte mich auf den Rand der Matratze. Sein Kissen und seine Decke waren mit der gleichen IKEA-Bettwäsche bezogen wie Lucys Bett.
    Die Musik war klasse. Guter, solider Rock, ein bißchen moderner arrangiert als die Originalstücke, genau wie ich es mochte. Danach kamen ein paar alte Sachen.
    Ohne es zu merken, fing ich an mitzusingen.
    »Du hast ’ne gute Stimme«, sagte Rilke, als ich die Kopfhörer abgesetzt hatte, »hast du mal gesungen?«
    Ich lachte verlegen. »Ja, Schlaflieder.«
    »Du hast Kinder?«
    Es klang mehr wie eine Feststellung als eine

Weitere Kostenlose Bücher