Am Ende des Tages
Rechnung und erkundigte sich nach der Abfahrtszeit des Zugs nach München.
18.
Kajetan stelzte über den zerfurchten, vor Nässe schmatzenden Innenhof des Schlehberger-Hofs. Die Haustür war nur angelehnt. Der Geruch von alter Milch und Schweiß drang an seine Nase. Er hielt unwillkürlich die Luft an.
»Niemand daheim?«
Sein Ruf hallte aus. Am Ende des Flurs öffnete sich eine Tür. Eine kräftig gebaute Mittvierzigerin, das Gesicht mit Sommersprossen übersät, näherte sich und blieb, sich die Hände an der Schürze trocknend und ihn misstrauisch beäugend, einige Schritte vor ihm stehen. Kajetan lüftete seinen Hut. »Die Schlehbergerin?«
»Was möchst?«
Kajetan stellte sich vor und erklärte ihr den Grund seines Besuches.
Die Bäuerin wurde zugänglicher. Sie sei im Bilde, meinte sie. In der Gemeinde habe sich schon herumgesprochen, dass sich Ignaz Rotter einen neuen Anwalt genommen hatte. Nur leider sei ihr Mann nicht da, er habe mit einem der Söhne im Wald zu tun.
Kajetan zog Luft durch die Zähne. Er könne natürlich auch noch versuchen, später vorbeikommen. Aber dann liefe er Gefahr, den Mühldorfer Zug nicht mehr zu erreichen. Er würde sie auch bestimmt nicht lange aufhalten.
Sie zögerte. Er lächelte gewinnend.
»Von mir aus. Gescheiter wärs zwar schon, wenn der Bauer dabei wär. Aber wenn du jetzt schon einmal da bist …« Die Schlehbergerin ging, ein wenig hüftsteif, in die Stube voraus und deutete auf den Esstisch. »Bin gleich da. Hock dich derweil hin.«
Während sie in der Küche nebenan hantierte, sah sich Kajetan um. Die Stube war sauber und aufgeräumt. Durch die kleinen Fenster drang graues Tageslicht, das jedoch nur eine Seite des Raums erhellte und den Rest in dämmerigem Dunkel beließ. Im Esswinkel hing ein Kruzifix, umgeben von gerahmten Fotografien verstorbener Familienmitglieder, darunter die eines Kleinkindes. Zwei der Abgebildeten trugen Uniform.
Die Bäuerin zog die Küchentüre hinter sich zu, setzte sich auf die Wandbank und bedeutete Kajetan, es ihr gleichzutun. Er griff nach einem Stuhl und nahm Platz, darauf achtend, dass zwischen ihm und der Bäuerin ein Stuhl frei blieb.
Sie legte ihre Hände auf ihrem Schoß übereinander. »Frisch ists bei uns heraußen, gell?«
Kajetan stimmte höflich zu. »Herbst halt.«
»Bist ja auch nicht grad geschickt angezogen für so ein Wetter«, tadelte sie besorgt. »Wirst dir gewiss noch einen Katarrh holen.«
Kajetan schmunzelte. »Auch wenn ich ein Stadterer bin, Bäuerin – ich halt schon was aus.«
Ihr Blick sagte, dass sie nicht völlig davon überzeugt war, sie ließ es aber dabei bewenden. Sie senkte den Blick auf ihre Hände. Dann, nach einem tiefen Atemzug, begann sie zu erzählen.
»Was kann ich dir zu der Sach noch sagen? Ist ja alles schon so lang her. Ist keine gute Zeit gewesen, damals, nach dem Krieg. Ein Haufen Gesindel hat sich rumgetrieben. Allweil wieder hast hören müssen, dass da eingebrochen worden ist, dort die Leut auf einem abgelegenen Ödhof ausgeräubert oder gleich umgebracht worden sind. Da haben wir oft schon eine rechte Angst haben müssen.«
Kajetan unterbrach sie nicht.
»Sind ja oft frühere Soldaten gewesen. Das Leut-Umbringen hat denen nimmer viel ausgemacht.«
Ein Rascheln, von einem kurzen, fast unhörbaren Wimmern gefolgt, ließ Kajetan herumfahren. Im Dämmerdunkel nahm er eine zusammengeschrumpfte Gestalt wahr, die auf einer Bank vor dem Sitzofen kauerte.
»Der Altbauer«, klärte die Schlehbergerin auf. Sie beugte sich zur Seite und rief freundlich: »Alles recht, Vater?«
»Kalt … ists …«, klagte der Greis.
»Gell?« Sie lachte gutmütig. »Werden schon bald Schnee kriegen, was meinst, Vater?«
»Kalt … ists …«
»Jaja.« Sie wandte sich wieder Kajetan zu. »Tja, und dann auf einmal die Geschicht mit dem Ignaz und der Fanny …«, sie unterbrach sich, für einen Moment gedankenverloren. Bedrückt fuhr sie fort: »Keiner hat sich vorstellen können, dass der Ignaz so was hat tun können. Aber wies halt dann aufs Gericht gegangen ist und die Herren festgestellt haben, dass er sie doch erschossen hat, da haben dann viele gemeint, dass es wohl schon seine Richtigkeit haben wird. Die hohen Herrschaften haben das ja studiert, haben die Leut gesagt. Die sind eben gescheiter als unsereins.«
»Hast du es dann auch geglaubt?«, fragte Kajetan.
Sie betrachtete wieder ihre Hände. »Habs halt auch müssen.« Sie hob den Kopf. »Und wies dann geheißen hat, dass ihm
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