Am Ende schmeißen wir mit Gold: Roman (German Edition)
rechten Hand. Wir lachen.
»Jan?«
»Hm.«
»Ist alles in Ordnung? Weil … also ich habe nämlich vor einer Weile so einen Karton bei euch gesehen und da waren jede Menge ungeöffnete Briefe drin, von der Bank und vom Anwalt, und ich habe mich gefragt …« »Stopp, Flieger«, fällt er mir ins Wort. »Es ist alles in Ordnung. Lass uns nicht schon wieder streiten. Wer weiß, ob wir dann noch einmal Lust haben, uns zu vertragen.« Er versucht zu spucken. Der Speichel baumelt in einem dünnen Faden auf den Asphalt, ein kleines Bungeeunglück in Zeitlupe.
»Na gut«, kapituliere ich und schlage vor, wieder reinzugehen.
»Ich bleibe noch ein paar Minuten hier sitzen«, sagt Jan.
Nickend stehe ich auf.
Wir haben die Rollen getauscht. Ich gehe weg, er bleibt.
43
Ich liege im Graben des Doppelbetts. Es ist Sonntagmorgen und ich bin schon früher wach als Mama und Papa. Ich schlüpfe aus ihrer Mitte ins Wohnzimmer und gucke Trickfilme: He-Man, Saber Rider and the Starsheriffs, Scooby-Doo, Alfred J. Kwak, Bravestarr, Als die Tiere den Wald verließen …
Nachmittags gehen wir eislaufen oder im Wald spazieren oder in den Wildpark oder Eis essen oder minigolfen oder zur Oma.
Ich glaube an den Nikolaus und den Nachtvogel, daran, dass es immer so sein wird.
44
Ich sitze im Wohnzimmer. Lio liegt neben mir auf der Couch und hat offenbar verstanden, dass da keiner mehr ist, der deshalb schimpfen wird. Ich kraule seine Ohren und beobachte mein Spiegelbild im Schwarz des Flachbildschirms.
Hannah schläft in einem Gästezimmer des Gasthaus Ochsen, der Rest übernachtet auf dem Hof. Die erste Nacht will ich allein verbringen, glaube, dass ich das schaffen muss. Doch dann rückt die Zimmerdecke plötzlich näher und näher. Als ich versuche aufzustehen, knicken meine Beine weg. Ich versuche es immer wieder, doch ich kann mich nicht halten. Lio guckt mich staunend an. Panisch robbe ich in Richtung Küche, weil ich hoffe, dass die Tischplatte, von der ich ja weiß, wie robust sie ist, mich davor bewahren kann, zerquetscht zu werden. Meine Hände rutschen auf dem Tränenwasser und dem Rotz aus, Lio kläfft nach oben. Ich habe keine Kraft mehr. Schluchzend wälze ich mich auf den Rücken, strecke die Arme aus. Gleich berühren meine Fingerspitzen die Tapete.
Als ich die Augen öffne, sitzt Lio neben mir und sieht an die Decke. Sie ist zurückgewichen. Über mich gebreitet liegt das Tuch aus seinem Körbchen.
45
Meine Eltern hinterlassen mir eine halbe Million Euro und das Haus. Ich weiß nicht, was ich empfinden soll.
Auf dem dunklen Schreibtisch steht ein Kugelstoßpendel. Ich spiele mit dem Gedanken, den Notar zu bitten, die letzte Kugel anzuheben, damit ich meinen kleinen Finger auf die Nachbarkugel legen kann, und schwungvoll loszulassen.
Abwesend drücke ich seine Hand und er übergibt mich an seine Sekretärin, die mich mit einem Lächeln ins Treppenhaus schiebt.
Die letzten Stufen vibrieren, vor dem Altbau bearbeiten sie das Kopfsteinpflaster mit einem Presslufthammer. Ich halte Ausschau nach Valentin. Er sitzt vor der Bäckerei einige Häuser weiter und rührt in einem Pappbecher. Ich lockere den Knoten meiner Krawatte, der wummernde Arbeiter lässt seine orangefarbene Weste fallen, als eine Frau in knappem Businesskostüm vorübertrippelt – wie in einem schäbigen Werbespot für Coca-Cola light.
Hannah ist am Morgen nach der Beerdigung zurückgeflogen. Ich folge ihr, wenn alles geregelt ist. Valentin und ich steigen in vier Stunden in den IC nach Bremen. Pelle begleitet uns, auch für ihn ist der Sommer zu Ende. Sein Vater und die Universität von Göteborg haben ihm ein Ultimatum gestellt, weil sie nichts von seinem einjährigen Urlaub wussten. Er nimmt die Fähre von Bremerhaven aus.
Ich drehe eine Abschiedsrunde mit Lio, werfe einen Stock und deute einen Sprint an, aber er trottet nur dahin, schnappt einmal halbherzig nach einem Kohlfalter, lässt seine spitzen Ohren und den Schwanz hängen.
»Sei nicht böse auf mich. Ich komme doch wieder.«
»Bist du da sicher?«
Maria hat Schinken in Brotteig gebacken. Wieder essen wir im Garten, strahlt die Sonne, rauscht der Wald. Aus der Ferne mag es aussehen wie eine nachgestellte Szene aus einem Astrid-Lindgren-Buch oder ein Motiv aus einem Ferienkatalog für Bauernhöfe im Schwarzwald. Aber es ist anders als sonst, vor allem leiser, wir trinken Wasser statt Wein. Dynamische Wespen landen auf der Brotkruste, eine ertrinkt in Julias Wasserglas, eine andere
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