Am Ende siegt die Liebe
sagte sie mehr zu sich selbst als zu Michael.
»Ich kann mir keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen als das Tegernseer Tal.« Michael breitete eine rotgewürfelte Tischdecke aus. »Während der Jahre, in denen ich das Hotelgewerbe von Grund auf lernte, bin ich ziemlich viel in der Welt herumgekommen. Ich hatte immer Heimweh und konnte es kaum erwarten, wenigstens im Urlaub wieder am Tegernsee zu sein.«
»Haben Sie das Hotel von Ihren Eltern überno mmen?«
»Von meinem Vater. Er ist vor zwei Jahren gestorben. Meine Mutter habe ich kaum gekannt. Sie hat uns verlassen, als ich soz usagen noch in der Wiege lag.« Er hob die Schultern. »Kurz vor meinem zehnten Geburtstag ist sie bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen.«
»Es muß schlimm gewesen sein«, sagte Carola und half ihm, den Tisch zu decken.
»Wie gesagt, ich habe sie kaum gekannt.« Michael öffnete die Thermoskanne und schenkte Tee ein. »Was hat Sie nach Rottach-Egern geführt? - Sagen Sie jetzt nicht, daß Sie hier nur ein paar Urlaubstage verbringen wollen.«
»Und wenn es so wäre?«
»Ist es so?« Er sah sie forschend an.
Carola nahm sich einen gebratenen Hühnerschlegel und legte ihn auf ihren Teller, dann brach sie langsam ein Stück Weißbrot ab. »Nein, es ist nicht so«, erwiderte sie und sprach davon, wie sie sich jahrelang um ihre Eltern gekümmert hatte, während ihr Br uder und seine Frau höchstens mal zu einem Pflichtbesuch vorbeigekommen waren.
»Und was machen Sie beruflich?«
»Außer Haus arbeiten konnte ich durch meine Eltern nie. Meinen Traum, Dolmetscherin zu werden, mußte ich schon bald begraben. Zwei Wochen nach meinem Abitur wurde mein Vater krank und zum Pflegefall. Meine Mutter ist körperlich nicht in der Lage gewesen, ihn zu versorgen. In ein Pflegeheim wollten wir ihn natürlich auch nicht geben.«
»Das kann ich sehr gut verstehen«, warf Michael ein. »Ich hätte so etwas auch nicht fertigg ebracht.«
»Also beschlossen wir, daß ich zu Hause bleibe und bei der Pflege helfe. Ich hatte Glück und konnte mir als Übersetzerin e twas verdienen. Daraus habe ich später einen Beruf gemacht. Nach dem Tod meiner Großtante hatte ich keine finanziellen Probleme mehr, da sie mich als ihre Alleinerbin eingesetzt hatte.
»Und Ihr Bruder?«
»Er hat es mir nie verziehen, daß ich Tante Olga beerbt habe. Unser Vater war ihr Neffe. Thorsten warf mir vor, ich hätte mich durch die Pflege unseres Vaters in ihr Herz geschlichen.«
»Er hätte nur auch etwas tun müssen.«
»Das hat er nicht so gesehen. Er meinte, schließlich hätte er seinen Beruf und müßte auch an seine Karriere denken.«
Carola hob die Schultern. Sie erzählte ihm, daß ihr Bruder und seine Frau jetzt das Erdgeschoß und den ersten Stock des Elter nhauses für sich beanspruchten. »Mir hat man die Dachwohnung gelassen und natürlich den größten Teil des Gartens, weil er Arbeit macht.«
Sie nahm einen Schluck Tee. »Vermutlich werde ich meine Wohnung verkaufen oder vermieten. Ich kann auch woanders leben.«
»Zum Beispiel am Tegernsee«, schlug er leichthin vor und schaute ihr in die Augen.
»Ja, zum Beispiel«, erwiderte sie, ohne seinem Blick ausz uweichen.
* * *
Am Montagmorgen stieg Carola kurz vor der Prinz-Karl-Kapelle aus dem Bus und ging zu Fuß zum Doktorhaus. Sie hatte ihren Wagen absichtlich im Hotel gelassen, weil sie nicht sicher gew esen war, ob sie in der Nähe einen Parkplatz finden würde.
Es war ein wunderschöner Morgen. Der Dunst auf dem See wirkte wie ein durchsichtiger Schleier. Nahe beim Ufer trieb ein Schwanenpärchen. Die junge Frau bedauerte, nichts für die Tiere dabei zu haben. »Das nächste Mal«, versprach sie und ging eilig weiter.
Schon bald erreichte sie das Doktorhaus. Mit seinen grünen Fensterläden und Geranien geschmückten Balkons machte es einen überaus anheimelnden Eindruck auf Carola. Ihr gefiel auch der große Garten mit seinen blühenden Büschen, den Bäumen und Blumen. Sie konnte sich vorstellen, wie herrlich es für Kinder sein mußte, hier aufzuwachsen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Dr. Schumann Kinder hatte. Die ältere Frau, die ihr den Arzt empfohlen hatte, hatte nichts davon erwähnt.
Carola ging zwischen zwei Koniferen hindurch und betrat den Anbau, in dem die Praxis lag. »Guten Morgen«, sagte sie zu Tina Martens, die an einem der Karteischränke stand und die Kranke nakten der Patienten heraussuchte, die für diesen Vormittag bestellt waren.
Tina erwiderte ihren
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