Am Ende siegt die Liebe
zu seinem Wagen. Karin und Jochen Flechner hatten ihn sehr liebenswürdig aufgenommen, als er gekommen war, um ihre Tochter abzuholen. Daniela war noch nicht ganz fertig gewesen, und so hatte er Gelegenheit gehabt, sich mit ihren Eltern über das Konzert, das sie besuchen wollten, zu unterhalten. Sie schienen ihn zu mögen.
»Ich kann mich nicht beklagen«, erwiderte die junge Frau. »Ja, Rainer und ich haben mit unseren Eltern wirklich Glück gehabt.« Stefan schloß den Wagen auf und sie setzte sich hinein. »Sie werden sich vermutlich wundern, daß ich noch so einen kleinen Bruder habe«, fügte sie hinzu, als er sich hinter das Steuer fallen ließ. »Meine Mutter wollte immer einen ganzen Stall voll Kinder, aber nach mir hatte sie mehrere Fehlgeburten. Es kostete sie viel Mut, es nach Jahren noch einmal zu versuchen.«
»Das kann ich mir denken.« Stefan drehte den Zündschlüssel he rum. »Ich hatte eine kleine Schwester«, erzählte er. »Melanie starb kurz nach ihrer Geburt. Meine Mutter brauchte sehr, sehr lange, um darüber hinwegzukommen.«
»Leben Ihre Eltern noch?«
»Meine Mutter. Sie hat nach dem Tod meines Vaters zum zweiten Mal geheiratet. Ihr Mann stammt aus Paris. Zur Zeit leben sie in New York. Jacques arbeitet dort für eine französische Firma.«
»Vermutlich sehen Sie Ihre Mutter nicht sehr oft.«
»Nein.« Stefan dachte daran, daß er an und für sich vorgehabt hatte, seine Mutter und ihren Mann während der Ferien zu besuchen. Sie wußte noch nichts von seiner Krankheit, und er hatte Angst, mit ihr darüber zu sprechen.
Die jungen Leute fuhren zu einem Restaurant, das unmittelbar am Wasser lag. Seine Terrasse bot einen herrlichen Blick über den ganzen See und die Berge, die ihn wie ein kostbares Gemälde einrahmten.
Stefan hatte sich seit dem vergangenen Abend auf sein Rendezvous mit Daniela gefreut. Obwohl er sich sagte, daß es nach so kurzer Zeit noch gar nicht sein konnte, begann er sich in die junge Frau zu verlieben. In der Nacht hatte er sogar von ihr geträumt. Gemeinsam waren sie auf den See hinausgefahren und hatten Arm in Arm zum sternenübersäten Himmel hinaufgeschaut.
Lina Becker, die mit zwei Freundinnen auf der Terrasse Kaffee getrunken hatte, kam an ihren Tisch. »Guten Abend«, grüßte sie freundlich und musterte Stefan neugierig. »Die Welt ist doch klein, Frau Flechner. Wir wollen gerade gehen. Der Kaffee ist hier wirklich hervorragend.«
Daniela blieb nichts anderes übrig, als Lina Becker und Stefan miteinander bekannt zu machen.
»Leben Sie in Tegernsee, Herr Eschen?« erkundigte sich die Frau. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals gesehen zu haben.«
»Nein, ich bin hier nur während meines Urlaubs«, antwortete er gezwungen.
»Bestimmt haben Sie Frau Flechner letztes Jahr kennengelernt, als sie auf Korsika gewesen ist.«
»Sieht aus, als würden Ihre Freundinnen bereits ungeduldig we rden, Frau Becker«, bemerkte Daniela und wies mit dem Kopf zu den beiden Damen, die am Ende der Terrasse stehengeblieben waren.
»Die hatte ich ganz vergessen«, meinte Lina Becker. »Ich wü nsche Ihnen noch einen schönen Abend.« Sie schenkte den jungen Leuten ein süffisantes Lächeln. »Ich sage ja immer: nichts geht über ein romantisches Zusammensein an unserem See. Wer weiß, wieviel Menschen sich hier schon gefunden haben. Wenn...«
Eine Kellnerin brachte das bestellte Essen.
»Dann will ich nicht länger stören.« Lina Becker zwinkerte den jungen Leuten verschwörerisch zu und ließ sie endlich allein e.
»Diese Frau ist die reinste Naturkatastrophe«, bemerkte D aniela aufgebracht. Es ärgerte sie, daß ihre Nachbarin wie ein Elefant im Porzellanladen ihr Zusammensein mit Stefan Eschen gestört hatte.
»Nachbarn können manchmal sehr anstrengend sein«, meinte Stefan. Die Frau war ihm vom ersten Augenblick an unsymp athisch gewesen. Sie hatte etwas an sich, das ihn abstieß.
»Besonders Lina Becker«, sagte Daniela. »Sie ist die größte Klatschbase weit und breit. Das Schlimme ist, daß sie nicht nur weitererzählt, was sie sieht und hört, sondern auch noch einen Großteil ihres Klatsches erfindet. In unserer Gegend wird sie al lgemein ”die Zeitung” vom Narzissenweg genannt.«
»Leute wie sie können sehr viel Unheil anrichten«, bemerkte der Lehrer.
Daniela nickte. »Frau Becker hat es besonders auf einen alten Mann abgesehen, der ihr direkt gegenüber wohnt.« Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich sollte sie einem leid tun. Sie wird den
Weitere Kostenlose Bücher