Am Ende war die Tat
wenn man bedenkt, wie viele Fenster es in dieser Stadt gibt, die alle geputzt werden wollen.«
Ness stieß wütend die Luft aus. Ob es irgendetwas auf der Welt gebe, das Majidah nicht zu etwas Positivem verdrehen konnte, fragte sie. Es gehe ihr unendlich auf den Zeiger, Tag für Tag mit so einem fröhlichen Scheißsonnenscheinchen zusammen zu sein.
Majidah überlegte einen Moment. Auch sie hatte auf eine Gelegenheit gewartet, sich mit Ness zu unterhalten, doch gedachte sie nicht, sich auf diese Art Gespräch einzulassen. »Ja, du meine Güte, ist das denn vielleicht keine wichtige Fähigkeit?«, fragte sie. »Ist es nicht die wichtigste Fähigkeit überhaupt, die ein Mensch entwickeln muss, um die Enttäuschungen des Lebens zu verkraften?«
Ness tat ihre Meinung zu dieser Auffassung mit einem Schnauben kund.
Majidah setzte sich an einen der Miniaturtische, wies Ness mit einer Geste den Stuhl gegenüber und fragte nachsichtig: »Willst du mir jetzt vielleicht erzählen, was schiefgegangen ist?«
Ness war schon drauf und dran, »nix« zu sagen. Aber sie brachte es nicht heraus. Der gütige Ausdruck auf Majidahs Gesicht, der allem, was Ness getan hatte, immer noch trotzte, veranlasste das Mädchen vielmehr, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie dies mit unschwer durchschaubarer vermeintlicher Gleichgültigkeit tat. Sie habe sich mit Fabia Bender vom Jugendamt getroffen, berichtete Ness. Sie habe einen Kurs am Kensington and Chelsea College belegen wollen, der ihr eine echte berufliche Perspektive eröffnet hätte, die nichts mit Fensterputzen oder Perlenaufsammeln zu tun hatte. Doch der Kurs kostete über sechshundert Pfund, und woher solle Ness so viel Geld nehmen, ohne dafür auf den Strich zu gehen oder eine Bank zu überfallen?
»Welchen Kurs willst du denn besuchen?«, wollte Majidah wissen.
Ness schwieg. Sie hatte das Gefühl, zu viel preiszugeben, wenn sie eingestand, dass es die Hutmacherei war, die ihr Interesse geweckt hatte. Sie glaubte, damit werde sie alles offenbaren, was sich in ihrem Leben verändert hatte, was jedoch unausgesprochen war und es auch bleiben sollte. »Sollte ich mir nich' 'nen Berufswunsch überlegen?«, fragte sie stattdessen. »Sollte ich nich' versuchen, was aus mir zu machen?«
»Ich höre Enttäuschung«, stellte Majidah fest. »Also musst du mir erklären, was du damit erreichen willst. Du betrachtest das Leben als eine einzige Abfolge von Enttäuschungen. Und weil du es so siehst, bist du unfähig zu erkennen, dass eine neue Tür sich öffnet, wenn eine andere sich schließt.«
»Klar. Sicher doch.« Ness stand auf. »Kann ich geh'n?«
»Hör mich an, ehe du gehst, Vanessa«, bat Majidah, »denn was ich dir sage, sage ich in aller Freundschaft. Zorn und Enttäuschung verstellen dir die Sicht auf die Gelegenheiten, die Gott vor dir ausbreitet. Zorn und Enttäuschung machen uns blind, mein Kind. Zumindest lenken sie uns ab. Wenn wir aber akzeptieren, was das Jetzt uns bietet, wenn wir einfach durch den Augenblick schreiten und jedwede Aufgabe annehmen, die vor uns liegt, dann gewinnen wir die nötige Gelassenheit, um Beobachter zu sein. Und Beobachtung ist unser Instrument, um das zu erkennen, was wir als Nächstes tun sollen.«
»Ah ja?«, fragte Ness, und ihr Tonfall triefte vor Bitterkeit: »Hat das bei Ihnen funktioniert, Majidah? Das Leben sagt Ihnen, Sie können nich' Flugzeugbau studier'n, also halten Sie einfach die Augen offen, gehen weiter von Tag zu Tag und landen hier?«
»Ich bin bei dir gelandet«, entgegnete Majidah. »Das war in meinen Augen Teil von Gottes Plan.«
»Ich dachte, der heißt bei euch Allah«, höhnte Ness.
»Allah, Gott, der Herr. Schicksal. Karma. Wie auch immer. Das ist ein und dasselbe, Vanessa.« Majidah schwieg einen Moment und beobachtete ihr Gegenüber, wie sie es bereits dieganzen Monate über getan hatte, die Vanessa Campbell bei ihr arbeitete. Sie wollte weitergeben, was ein schwieriges Leben sie gelehrt hatte. Sie wollte Ness klarmachen, dass es nicht die Umstände des Lebens waren, die entschieden, sondern wozu man diese Lebensumstände nutzen konnte - Entscheidungen, Folgen und was man aus diesen Folgen lernte. Doch sie sagte nichts von alledem. In ihrem momentanen Zustand würde Ness ohnehin nicht zuhören. Also erklärte Majidah stattdessen: »Du stehst am Wendepunkt, mein Kind. Ich frage dich, was willst du mit all dieser Verbitterung anfangen?«
Nachdem Joel Cal das Klappmesser übergeben hatte, blieb ihm nichts anderes
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