Am Ende war die Tat
»Affenkönigin« bedeutete - berichtete von ihren drei Sitzungen mit Ness. Hart, resümierte sie. Vanessa Campbell sei wirklich eine harte Nuss, die sich nicht so ohne Weiteres knacken ließ.
Fabia wartete darauf, dass sie fortfuhr. Bislang hatte Ruma ihr nichts gesagt, was sie nicht längst wusste.
Ruma holte tief Luft. Die Wahrheit sei, dass sie noch keinen Schritt vorwärtsgekommen seien, gestand sie. »Ich habe an einen neuen Ansatz gedacht, eine Gruppe«, fuhr sie fort. »Mit anderen Mädchen, die das Gleiche erlebt haben. Gott weiß, davon haben wir ja genug.«»Aber?«, hakte Fabia nach. Sie merkte, dass Ruma noch mehr zu sagen hatte. Die junge Frau hatte noch nicht gelernt, ihre Absichten hinter einer sorgsamen Intonation zu verbergen.
»Aber ich habe ein bisschen nachgeforscht und das hier gefunden.« Ruma tippte mit ihren perfekt gepflegten, französisch lackierten Nägeln auf den Aktendeckel. »Ich glaube, da verbirgt sich allerhand, was man nicht auf den ersten Blick sieht. Hätten Sie einen Moment Zeit?«
Fabia hatte nie genug Zeit, aber sie war neugierig. Sie mochte Ruma. Sie wusste, die junge Frau meinte es gut, und Fabia bewunderte die Unermüdlichkeit, mit der die Therapeutin jede Möglichkeit für ihre Patienten auszuloten versuchte, so ergebnislos ihre Bemühungen auch oft sein mochten. Wo Atem war, da war Leben. Wo Leben war, da war Hoffnung. Es gab schlechtere philosophische Grundsätze für jemanden, der sich dafür entschieden hatte, die vom Schicksal Betrogenen therapeutisch zu betreuen.
Sie zogen sich in ihr Büro zurück, sobald der Kaffee fertig war und die Sozialarbeiterin sich einen Becher eingeschenkt hatte. Dort teilte Ruma ihr mit, was sie herausgefunden hatte. »Sie wissen, dass die Mutter in einer psychiatrischen Klinik ist, oder?« Als Fabia nickte, fuhr sie fort: »Wissen Sie, warum sie dort ist?«
»Fortdauernde postnatale Depression, steht in meiner Akte«, antwortete Fabia. »Soweit ich weiß, geht das seit vielen Jahren so, immer mal wieder in der Klinik, dann wieder draußen.«
»Wie wär's mit Psychose?«, entgegnete Ruma. »Ich würde es schwere psychotische postnatale Depression nennen. Mit versuchtem Totschlag.«
Fabia betrachtete Ruma über den Rand ihrer Tasse hinweg. Sie hörte keine Aufgeregtheit in der Stimme der Therapeutin und schätzte sie für ihre Professionalität. »Wann?«, fragte sie. »Und wen wollte sie töten?«
»Es ist zweimal passiert. Beim ersten Mal konnte sie in letzter Sekunde daran gehindert werden, ihren Jüngsten aus dem Fenster im dritten Stock zu werfen. Das war in ihrer Wohnungauf der Du Cane Road in East Acton. Eine Nachbarin war dort, und sie hat die Polizei verständigt, nachdem sie das Kind in Sicherheit gebracht hatte. Beim zweiten Mal hat sie den Kinderwagen mit demselben Sohn darin auf die Straße geschoben, als sich gerade ein Bus näherte, und ist weggelaufen. Offenbar unzurechnungsfähig.«
»Was haben Sie noch?«
»Das Ganze hat eine lange Vorgeschichte.«
»Was für eine Vorgeschichte?«
»Sie sagten, Carole sei seit Jahren immer wieder eingewiesen worden. Aber wussten Sie, dass das mit dreizehn Jahren angefangen hat?«
Fabia hatte keine Ahnung. »Irgendein traumatisches Erlebnis?«
»Und nicht zu knapp. Ihre Mutter hat sich das Leben genommen, drei Wochen nachdem sie aus einer Klinik entlassen worden war. Paranoide Schizophrenie. Carole war dabei, als sie sich im Bahnhof Baker Street vor eine U-Bahn geworfen hat. Da muss Carole zwölf gewesen sein.«
Fabia stellte die Tasse ab. »Ich hätte das wissen sollen«, sagte sie. »Ich hätte es herausfinden müssen.«
»Nein«, widersprach Ruma hastig. »Das ist nicht der Grund, warum ich Ihnen davon erzähle. Und außerdem - wie tief sollen Sie denn bei jedem einzelnen Fall graben? Das ist nicht Ihr Job.«
»Ist es denn Ihrer?«
»Ich bin diejenige, die hier versuchen muss, einen Durchbruch zu erzielen. Sie sind es, die verhindert, dass die Dinge auseinanderfallen.«
»Ich verteile Pflaster, wo eigentlich Operationen nötig wären.«
»Man kann nur Wunden behandeln, die man auch sieht«, erwiderte Ruma. »Worauf ich hinauswill, ist das hier.«
Aber Fabia brauchte keine weiteren Erklärungen. »Sie glauben, Ness rutscht in eine Psychose? Wie ihre Mutter?«
»Es ist immerhin möglich, oder? Und hier kommt noch etwas Interessantes: Carole Campbell hat versucht, den Jüngsten umzubringen, weil sie glaubte, er habe ihr Leiden geerbt. Ich weiß nicht, wieso, denn er
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