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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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sie ausgestiegen waren und der Zug aus dem Bahnhofsgebäude rollte, einem winzigen Backsteinhäuschen von der Größe einer öffentlichen Toilette mit einem verrosteten weißen Schild davor. Es gab keine erkennbaren Bahnsteige, ebenso wenig konnte man hier, mitten im Nirgendwo, einen Taxistand erhoffen. Auch Personal gab es in diesem Bahnhof, der umgeben von Hecken zwischen winterlich braunen Feldern lag, keines.
    Vor dem Gebäude stand eine einzelne Bank, mattgrün mit grauen Stellen, wo die Farbe im Laufe der Jahre abgeblättert war. Darauf ließ sich Ness fallen. »Ich komm nich' mit.«
    »Augenblick mal«, sagte Genera. »Du wirst auf keinen Fall...«
    »Du kanns' mich nicht hinschleifen«, fiel Ness ihr ins Wort. »Klar, du kanns' es versuchen, aber ich kann mich wehr'n, und das werd ich auch, ich schwör's.«
    »Du musst aber mitkommen«, sagte Joel. »Was wird sie sagen, wenn du nich' kommst? Sie wird fragen. Was soll'n wir dann sagen?«
    »Von mir aus sag ihr, ich bin gestorben oder so«, erwiderte Ness. »Sag ihr, ich bin mit 'nem Zirkus abgehau'n. Sag ihr, was du wills'. Ich will sie nich' seh'n. Ich bin bis hier mitgekommen, okay, aber jetz' fahr ich wieder zurück nach London.«
    »Mit welcher Fahrkarte?«, fragte Genera. »Von welchem Geld willst du dir eine kaufen?«
    »Oh, ich hab Geld, falls ich welches brauch«, teilte Ness ihr mit. »Und ich kann mir noch viel mehr besorgen.«
    »Woher?«, fragte Genera. »Was ist das für Geld?«
    »Geld, für das ich arbeite«, erwiderte Ness.
    »Willst du mir weismachen, du hast einen Job?«
    »Kommt drauf an, was du >Job< nenns'.« Ness knöpfte ihre Jacke auf und enthüllte ihre Brüste in der hautengen Bluse. Sie lächelte selbstzufrieden. »Weißte, Tante Ken, ich brauch mich nur richtig anzuzieh'n, um Geld zu machen.«
    Zu guter Letzt musste Genera einsehen, dass es sinnlos war, weiter zu streiten. Also rang sie Ness ein Versprechen ab. Dann gab sie ihrerseits eines, auch wenn sie beide wussten, dass ihre Worte wertlos waren. Genera hatte einfach schon zu viel um die Ohren, um sich obendrein noch mit Ness auf einen Kleinkrieg über die Frage einzulassen, woher sie ihr Geld hatte oder ob sie ihre Tante und ihre Brüder zu ihrer Mutter begleiten werde. Für Ness waren Versprechen schon seit langem keinen Pfifferling mehr wert. Seit sie denken konnte, hatten andere Menschen ihr Versprechen gegeben und bei erster Gelegenheit gebrochen, darum fand sie, es sei ihr gutes Recht, das Blaue vom Himmel zu versprechen und dann nicht zu halten, und sie redete sich ein, es sei ihr inzwischen auch vollkommen gleich, wenn andere dies mit ihr täten.
    Die getauschten Versprechen waren in diesem Fall simpel: Genera würde nicht darauf bestehen, dass Ness sie auch nur einen Schritt weiter begleitete. Im Gegenzug würde Ness diezwei Stunden bis zu ihrer Rückkehr hier am Bahnhof warten. Nachdem sie handelseinig waren, ließen Genera und die Jungen Ness auf der Holzbank zurück, zwischen einem Fahrplankasten, der seit mindestens zehn Jahren weder geöffnet noch aktualisiert, und einem Mülleimer, der bestimmt ebenso lange nicht mehr geleert worden war.
    Ness schaute ihnen nach. Für einen gar zu kurzen Moment war sie so erleichtert, einem weiteren qualvollen Besuch bei ihrer Mutter entgangen zu sein, dass sie tatsächlich erwog, ihr Versprechen zu halten. Tief in ihrem Innern existierte immer noch das Kind, das in der Lage war zu erkennen, wenn jemand aus Liebe handelte, und dieses Kind wusste intuitiv, dass Genera - sowohl mit dem Besuch bei Carole Campbell als auch mit dem Verbot, sich allein auf den Rückweg zu machen - nur ihr Bestes im Sinn hatte. Doch was ihr Bestes betraf, stand Ness vor einem zweifachen Problem: Zum einen hielt derjenige Teil von ihr, der kein Kind mehr war, die Direktiven erwachsener Autoritäten für eine Art Folter. Zum anderen hatte sie längst die Fähigkeit verloren, irgendetwas, das diese erwachsenen Autoritäten sagten, als ihrem Wohl förderlich zu begreifen. Vielmehr sah sie nur, was andere Menschen von ihr verlangten und was sie im Gegenzug von ihnen fordern konnte, indem sie ihren Forderungen nachgab oder eben nicht.
    In diesem speziellen Fall kam sie nach kurzer Überlegung zu dem Schluss, dass Nachgeben gleichbedeutend war mit einer langen Wartezeit in der Kälte. Ein gefühlloser Hintern nach Gott weiß wie vielen Stunden auf den splittrigen Planken der Bahnhofsbank, gefolgt von einer endlosen Zugfahrt zurück nach London, in deren Verlauf

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