Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Valetine-Seide.
»Das war Margarets Lieblingsstoff«, erklärte Rhia. »Ich erkenne ihn wieder. Sie hat gesagt, sie würde ihn aufheben und eine Tasche daraus machen.« Die beiden Frauen sahen sich an, und Antonia fragte sich, ob sie wohl denselben Gedanken hatten. Entlang einer Kante der Seide war die Naht nur geheftet, statt sauber und schön versäubert worden zu sein wie auf den anderen drei Seiten.
Antonia holte ihre Nähschere und trennte dann mit vor Nervosität zittriger Hand die losen Stiche auf. In der Innentasche befand sich ein steifes Stück Pergament. Sie traute ihren Augen kaum. Eine weitere Enttäuschung wäre einfach zu viel.
»Meine Hände zittern, Rhia. Hol du es raus.«
»Es ist das Negativ. Ich erkenne es wieder.«
»Es gibt keine Garantie, dass sich immer noch eine Repräsentation davon machen lässt«, warnte Antonia. Ihr Herz klopfte heftig. »Die Sonne scheint heute Morgen sehr hell … um diese Zeit wäre wohl die Küche am besten …«
Sie eilte aus dem Zimmer, um den nötigen Apparat zu holen. Sie wusste nicht, ob ihr die Vorstellung mehr Angst machte, Josiahs Gesicht zu sehen, oder die Möglichkeit, dass Isaac bis zum Ende dieses Tages als Mörder entlarvt werden würde. Rhia folgte ihr nach oben ins Labor und dann wieder hinunter in die Küche. Sie wechselten kein Wort, so sehr waren sie mit der Dringlichkeit des Unterfangens beschäftigt.
Beth polierte auf dem Küchentisch gerade das Silber. Erstaunt sah sie zu, wie Antonia ihren Rahmen auf der Arbeitsplatte aufbaute, die dem Küchenfenster am nächsten lag. Sie legte ein Blatt behandeltes Pergament auf das Negativ, klemmte die beiden dann zusammen in den Rahmen und stellte ihn so auf, dass das Sonnenlicht direkt darauffiel.
Mehr konnte sie nicht tun. Sie ertrug es nicht zuzusehen. Sanft nahm Rhia sie am Ellbogen. »Beth freut sich vielleicht über Hilfe beim Silberpolieren.«
»Ja, in der Tat«, stimmte Antonia ihr zu.
Beth sah entsetzt drein. »Oh, dazu besteht kein Grund …!«
Rhia lachte. »Meine Hände haben in letzter Zeit schmutzigere Arbeit verrichtet, als Silber zu putzen, Beth.«
Abwechselnd tunkten sie ihre Flanelllappen in die stinkende Flüssigkeit. Es sei ein Rezept ihrer Mutter, erklärte Beth, als Rhia die Nase rümpfte: aus Mehl und Schwefel und gekochten Zwiebeln. Sie polierten Kerzenständer und Salzstreuer und Kuchengabeln. Antonia zog alle zwei oder drei Minuten ihre Uhr aus der Rocktasche.
Als es so weit war, legte sie den Lappen zur Seite, glättete ihre Haare und ihren Rock, ehe sie sich schließlich dem kleinen Holzrahmen auf der Arbeitsplatte näherte.
Ein Porträt war sichtbar geworden, ein fast perfektes Abbild, als wäre es mit sepiabrauner Tusche gezeichnet worden. Fünf Männer standen in Antonias Garten, genau wie sie es vor bald zwei Jahren getan hatten. Da war Josiah, der sie direkt anschaute. Ihr Herz machte einen Satz, doch sie verspürte nichts als Erleichterung. Sein Bild war nicht weggezaubert worden – es war die ganze Zeit hier gewesen und hatte darauf gewartet, dass die Sonne es enthüllte. Nun konnte sie seinen Blick wieder spüren.
Neben Josiah stand Isaac. Er wirkte ein wenig steif und verkrampft. Mr Montgomery daneben schien ein wenig verwirrt, sah jedoch stattlich und elegant aus wie immer. An einem Ende der Reihe stand Mr Beckwith, der den Kopf schüchtern gesenkt hatte, so dass seine Augen im Schatten lagen. Das andere Ende bildete Ryan Mahoney, der versuchte, sein jungenhaftes Lächeln für die endlose Zeitspanne beizubehalten, die die Aufnahme gedauert hatte.
Antonia schraubte die Klemmen ab, die den Rahmen zusammenhielten, und legte das Bild vorsichtig auf die Arbeitsplatte. Die Schnur über der Wandvertäfelung spannte sich, und die Messingglocke in der Küche läutete, woraufhin alle drei Frauen zuerst erschrocken zusammenzuckten und dann nervös lachten. »Wer könnte das sein?« Antonia sah auf die Uhr. Es war erst zehn. »Ich gehe schon, Beth.«
Isaac Fisher stand auf der obersten Treppenstufe im frischen Morgenlicht, den Hut in den Händen. Obwohl sein Gesicht im Schatten lag, war deutlich zu erkennen, dass er sich unbehaglich fühlte. »Ich bin sofort gekommen, Antonia. Dein Brief klang dringlich …«
»Isaac!« Sie wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Sie hätte diese Sache vorher durchdenken müssen. Sie hatte mit ihm später am Nachmittag gerechnet, wenn überhaupt. »Komm herein. Wir sind in der Küche … Du weißt vermutlich nicht, dass Rhia hier
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