Am Rande Der Schatten
sein. Aber er hatte sein eigenes Leben nie aufs Spiel gesetzt. Lag der Grund nur darin, dass der Ka’kari Durzo zu der Zeit, da Kylar ihn gekannt hatte, bereits verlassen hatte? Kylar fragte sich manchmal, ob seine Macht eine Kehrseite hatte. Er konnte Hunderte von Jahren leben. Er konnte nicht getötet werden, aber er fühlte sich nicht unsterblich. Er spürte nicht einmal das Gefühl von Macht, von dem er als Junge gedacht hatte, er würde es empfinden, sobald er zum Blutjungen wurde. Jetzt war er ein Blutjunge, mehr als ein Blutjunge, und er hatte das Gefühl, immer noch einfach Kylar zu sein. Immer noch Azoth, das ahnungslose, verängstigte Kind.
»Habt Ihr eine schöne Frau durch das Dorf reiten sehen, Schwester?«, fragte er. Vi hatte gesehen, wo Kylar lebte. Sie würde es dem Gottkönig erzählen, und er würde alles und jeden vernichten, den Kylar liebte. Das war die Art, wie er vorging.
»Nein. Warum?«
»Wenn Ihr sie seht«, antwortete er, »tötet sie.«
»Warum? Ist sie Eure Frau?«, fragte Schwester Ariel grinsend.
Er bedachte sie mit einem leeren Blick. »So sehr hasst der Gott mich nicht. Sie ist eine Meuchelmörderin.«
»Ihr seid also kein Soldat, sondern ein Mörderjäger.«
»Ich jage sie nicht. Ich wünschte, ich hätte die Zeit dazu. Aber es ist möglich, dass sie hier durchkommt.«
»Was ist so wichtig, dass Ihr darauf verzichtet, Gerechtigkeit zu üben?«
»Nichts«, sagte er, ohne nachzudenken. »Aber andernorts ist der Gerechtigkeit zu lange nicht Genüge getan worden.«
»Wo?«, hakte sie nach.
»Lassen wir es dabei bewenden, dass ich in einer Mission für den König unterwegs bin.«
»Es gibt keinen König von Cenaria außer dem Gottkönig.«
»Das ist noch nicht so.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Es gibt keinen Mann, der Cenaria einen kann, nicht einmal gegen den Gottkönig. Vielleicht kann Terah Graesin es, aber sie ist wohl kaum ein Mann, nicht wahr?«
Er lächelte. »Ihr Schwestern denkt gern, ihr wüsstet über alles Bescheid, nicht wahr?«
»Wisst Ihr, dass Ihr ein aufreizender junger Ignorant seid?«
»Nur insofern, als Ihr ein müdes altes Weib seid.«
»Denkt Ihr wahrhaft, ich werde irgendeine junge Frau für Euch töten?«
»Ich nehme nicht an, dass Ihr das tun würdet. Vergebt mir, ich bin müde. Ich habe vergessen, dass die Hand des Seraphs
nur dann über seine Elfenbeinhallen hinausreicht, wenn es für ihn selbst etwas einzuheimsen gilt.«
Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Junger Mann, Eure Unverfrorenheit missfällt mir.«
»Ihr seid dem Rausch der Macht erlegen, Schwester. Ihr seht die Leute gern springen.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Also stellt Euch einfach vor, ich hätte Angst.«
Sie war sehr still. »Eine weitere Versuchung der Macht«, sagte sie schließlich, »besteht darin, jene niederzuschlagen, die einen verärgern. Ihr, Kylar Stern, führt mich in Versuchung.«
Er wählte diesen Augenblick, um zu gähnen. Es war nicht vorgetäuscht, aber er hätte keinen besseren Augenblick finden können. Sie wurde rot. »Es heißt, das Alter sei eine zweite Kindheit, Schwester. Außerdem würde ich Euch in dem Augenblick, in dem Ihr Macht in Euch hineinzieht, töten.«
Bei den Göttern, ich kann nicht aufhören. Will ich es mir wirklich mit der Hälfte der Magier der Welt verscherzen, weil eine alte Frau mich wütend macht?
Statt noch mehr in Rage zu geraten, wurde Schwester Ariels Gesicht nachdenklich. »Ihr könnt den Augenblick erkennen, in dem ich Magie in mich hineinziehe?«
Auf dieses Thema würde er nicht eingehen. »Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden«, antwortete er. »Aber es wäre lästig, Euren Leichnam loswerden und meine Spuren verwischen zu müssen. Vor allem bei all diesen Zeugen.«
»Wie würdet Ihr Eure Spuren verwischen?«, fragte sie leise.
»Ich bitte Euch. Ihr seid in Torras Bend. Wie viele der Magier, die hier angeblich vom Dunklen Jäger getötet wurden, haben Eurer Meinung nach tatsächlich ihr Leben an den Dunklen Jäger verloren? Seid nicht naiv. Das Ding existiert wahrscheinlich nicht einmal.«
Sie runzelte die Stirn, und er konnte erkennen, dass sie niemals darüber nachgedacht hatte. Nun, sie war eine Magierin. Natürlich dachte sie nicht wie ein Blutjunge. »Hm«, machte sie. »In einem Punkt irrt Ihr Euch. Es existiert.«
»Wenn alle, die jemals in den Wald gegangen sind, gestorben sind, woher wollt Ihr das dann wissen?«
»Junger Mann, Ihr könnt beweisen, dass wir alle
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