Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
also wieder da?«
»Nur um kurz mit Simon zu sprechen. Und bevor du fragst: Nein, ich habe keinen Termin.«
Kellys Mund bildete ein mit Lipgloss überzogenes »O«. »Ah ja … Möchtest du dich kurz setzen?«
»Nein, eigentlich nicht.« In gewisser Weise genoss Charlotte diesen Auftritt.
Natürlich war Simon schon Sekunden später bei ihr, nachdem Kelly im Flüsterton mit ihm telefoniert hatte. Er wirkte ebenfalls höchst erstaunt und sogar ein wenig ängstlich. »Hallo, Schätzchen! Was für eine Überraschung!«
»Ich war gerade in der Gegend. Hättest du kurz Zeit?«
»Tja, das kommt ein bisschen kurzfristig.«
»Es ist dringend.« Und damit ging sie voraus, und Simon, der Kelly noch kurz einen besorgten Blick zuwarf, folgte ihr.
»Konferenzraum?« Sie wies mit einem Nicken in die Richtung. Ah, der alte Bürogeruch: Toner und leicht angegammeltes Obst. Schon komisch, aber man vergaß regelrecht, dass man diese Luft so lange eingeatmet hatte. Sie blickte strikt geradeaus – das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, wären Chloe oder Fliss gewesen, die ihr etwas vorgeheuchelt hätten.
Simon machte die Tür des stickigen Konferenzraums hinter ihnen beiden zu. Er trug seine graue Strickjacke und eine schmale Krawatte und hielt immer noch den Kaffeebecher in der Hand, mit dem er schon am Empfang aufgetaucht war. »Hör mal, Charlotte, du kannst hier nicht einfach so reinplatzen.«
Sie setzte sich. »Ich brauche deine Hilfe. Würdest du bitte Platz nehmen?«
Er ließ sich widerwillig auf einem Stuhl nieder. »Du willst über deinen Vertrag diskutieren, ist es das? Tja, ich wollte nicht, dass es so weit kommt, aber wenn du diesen Weg einschlägst, muss ich dir sagen: Ich habe auch gewisse Rechte …«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Ich habe gesagt: Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche PR-Unterstützung.«
»Was?«
Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich die kleine Ansprache ins Gedächtnis zu rufen, die sie sich während der U-Bahn-Fahrt zurechtgelegt hatte. »Wie du weißt, wird mein Verlobter demnächst vor Gericht gestellt – wegen Mordes.« Simon sah mit einem Mal ziemlich blass aus. »Ich glaube nicht, dass er es getan hat. Und seit ich hier weg bin, habe ich allerhand herausgefunden, was mich zu der Überzeugung bringt, dass ich damit Recht habe.«
»Was, du hältst ihn wirklich für unschuldig ?«
»Ja. Ich glaube, die Polizei hat sich geirrt. So was kommt vor. Und deshalb brauche ich dich. Du musst ihn PR-mäßig unterstützen. Beschaff mir Interviews, Exposés, was auch immer. Ich weiß, du kannst das.«
Jetzt wurde Simon allmählich wütend. »Schau mal, ich hab ja wirklich für vieles Verständnis, aber selbst wenn das stimmt: Das ist doch hier kein Wohltätigkeitsverein, verdammt noch mal. PR für einen Mörder: Spinnst du?«
Das Blut rauschte ihr in den Ohren. »Aber du kennst Leute, du könntest helfen.«
»Warum zum Teufel sollte ich? Ich kann dich gut leiden, meine Liebe, aber jetzt übertreibst du’s.«
Der Moment war gekommen. Sie befeuchtete sich die trockenen Lippen. »Weil – nun ja: weil du mir was schuldig bist.«
»Was?«
»Weil … du mich anfangs sehr gemocht hast. Erinnerst du dich?«
»Ich weiß nicht, was du …« Ihre Unverfrorenheit ließ ihn hilflos auflachen.
Sie unterbrach ihn. »Die Q-Bar. In meiner ersten Woche. Hast du das etwa vergessen? Ich nämlich nicht.« Ihr bebte die Stimme, und die Erinnerungen blitzten wieder auf, wie sie aufgewacht war und sofort am Geruch gemerkt hatte, dass sie nicht in ihrem eigenen Bett lag. Diese Angst – O Gott, was ist mit mir geschehen? Diese schreckliche Angst.
Simon höhnte: »Du meinst, ich sollte dir helfen, weil … weil du dich einmal betrunken hast und …« Er verstummte.
Charlotte schluckte. »Ich meine, du solltest mir helfen, weil du damit etwas Gutes und Richtiges tun würdest.«
»Aber ich kann dir nichts garantieren. Wir sind hier bei der PR, Himmelherrgott, nicht bei der Werbung. Und es ist doch ein schwebendes Verfahren, oder ist dir das etwa nicht klar?«
Darüber musste sie lachen; ein trockenes Keuchen kam dabei heraus. »Ich habe sechs Jahre lang hier gearbeitet, Simon. Ich weiß, wie der Hase läuft. Du kannst mir einige Interviews beschaffen, nicht wahr?«
Er nestelte schmollend an der Beschriftung seines Oxford-Bechers herum. »Na ja, ich könnte mal mit ein paar Leuten reden.«
Ihr fiel ein Stein vom Herzen. »Okay.« Sie zwang sich, ihm nicht zu danken. Das hätte er nicht verdient.
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