Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Wohnung zu haben – obwohl sie sie inständig gebeten hatte, bei ihr zu bleiben.
»Guck doch mal, in was für ’nem Zustand wir sind, Char. Blaue Augen, ausgeschlagene Zähne. Hier sieht’s ja aus wie im Frauenhaus!«
Zu ihrem Erstaunen lachte Charlotte herzhaft los. Schnell hielt sie sich eine Hand vor den Mund. Wie konnte sie lachen, wenn die Lage so vollkommen verfahren war?
»Ist schon gut«, sagte Keisha und spülte ihre Zahnbürste aus. »Manchmal muss es einfach raus.«
Mitten in der Nacht wachte Charlotte mit pochendem Herzen auf. Stimmen – von draußen. Sie waren wieder da.
Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und wäre fast aus der Haut gefahren, ehe ihr klar wurde, dass der lange Schatten neben dem Fenster Keisha war.
»Sie sind wieder da.«
»Mmm. Hast du ’ne Taschenlampe? ’ne große?«
»Eine Taschenlampe? Äh, ich glaube schon.« Charlotte versuchte, sich zu beruhigen. In der Küche kramte sie in allen möglichen Schubladen, bis sie Dans große Camping-Taschenlampe fand. Erinnerungen an kalte Nächte blitzten auf, in denen er sie gewärmt hatte wie eine Decke, und wie sie durch die schwitzende Zeltplane die Morgenröte gesehen hatte. Er war glücklich gewesen beim Campen. Aber es hatte nicht lange gewährt. »Hier.«
Keisha knipste die Lampe an und nickte anerkennend. Dann machte sie das Fenster auf und leuchtete hinaus. »Verpisst euch, ihr miesen kleinen Wichser! Wen haben wir denn da? Michael Rutonwe, bist du das? Glaub bloß nicht, dass ich deiner Mutter nicht erzählen werde, was du hier treibst!«
»Und wer bist du?«, rief einer herauf.
Ein Stein prallte an die Hausmauer, doch Keisha zuckte mit keiner Wimper. »Ihr könnt mich nicht sehn, was? Aber ich seh euch kleine Scheißer ganz genau, und ich kenne euch alle. Also macht, dass ihr Land gewinnt, und zwar dalli!«
Einen Moment lang schienen sie ihr trotzen zu wollen. Dann jedoch begannen die Schatten erstaunlicherweise, in der Dunkelheit zu verschwinden. »Dumme Fotze!«, rief einer noch.
Charlotte schlotterte. »O Gott. Du hast es echt geschafft. Kennst du die wirklich alle?«
»Nee, nur den einen. Und den kennt bei uns in der Gegend wirklich jeder.« Keisha machte die Taschenlampe aus und sah Charlotte an, die in Dans Rugby-Trikot sehr blass wirkte. »Hey, du siehst aus, als könntest du ’n Tässchen vertragen.«
Wie sollte sie mit dieser Frau sprechen, die so anders war als sie selbst, die geradezu brummte vor Wutenergie? Sie hatten ihre Geschichten inzwischen geradezu bis zum Erbrechen durchgekaut.
Es war, als hätten sie beide je einen großen Koffer voller Probleme, der dringend ausgekippt werden musste. Es gab auch Dinge, die Charlotte zunächst nicht anzusprechen wagte. »Eins verstehe ich nicht«, sagte sie später bei in der Mikrowelle zubereiteten Super Noodles aus dem Laden an der Ecke, mit viel Sojasoße und Gewürzpulver. »Wieso wurde Ruby denn überhaupt in Pflege gegeben? Ich meine: Es kommt doch ständig in den Nachrichten, dass die Jugendämter die Kinder eben nicht wegnehmen, was dann manchmal tödliche Folgen hat, und … Oh, entschuldige.«
Auf Keishas Gesicht zeichneten sich zugleich Scham und Wut ab. »Mum hat sie zu sich genommen. Nach … nach dem, was passiert ist, hat sie ihn beim Jugendamt angezeigt. Chris.« Den Namen sprach sie ganz kleinlaut aus. »Dann haben sie Ruby gefragt, und sie hat gesagt, dass sie ja sowieso immer bei ihrer Oma übernachtet.« Sie nestelte mit ihrer Gabel herum. »Verstehst du, ich habe Nachtschichten geschoben im Pflegeheim, und er konnte ja nicht bei ihr zu Hause bleiben. Er hatte ja abends geschäftlich zu tun … und so.«
Charlotte konnte sie nicht ansehen. Sie kannte niemanden, der so stolz war wie Keisha, und jetzt erzählte sie ihr, wie sie ihr Kind verloren hatte, weil sie einen Fiesling liebte. Tja, so was konnte jeder passieren.
Für alles, was Charlotte im Laden an der Ecke einkaufte, musste sie sich einen Kassenzettel geben lassen, und diese Zettel wurden gesammelt, für den Tag, an dem Keisha endlich ihren Umschlag bekäme, und wenn Charlotte das mal vergaß, löcherte Keisha sie, was die Dinge im Einzelnen gekostet hatten. Was kosteten die Pot Noodles ? Und die Doritos ? Als Charlotte gestand, es nicht zu wissen, konnte sie förmlich zusehen, wie sie in Keishas Achtung noch weiter sank. Man musste den Preis der Dinge kennen. Woher sollte man sonst wissen, was etwas wert war? Woher sollte man sonst wissen, ob man ein gutes oder ein schlechtes
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