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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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warteten?»
    «Und der Mord?»
    «Es war falsch, aber unter den Umständen verständlich, dass sie nicht sofort die Polizei gerufen haben. Es sind noch halbe Kinder, und sie haben den Kopf verloren. Es war ihnen klar, dass ein Verdacht auf sie fallen könnte. Darum wollten sie sich erst absprechen – nicht ob, sondern wie sie es beichten sollten. Wenn Sie aber wirklich glauben, dass sie etwas mit dem Mord zu tun haben, können Sie sie ebenfalls jederzeit verhören …» Er lächelte. «Früher waren Sie doch immer so aufgeschlossen für Vorschläge, die auf talmudischer Denkschulung beruhen …»
    «Kommen Sie mir wieder mit diesem Pil… Wie heißt das doch wieder?»
    « Pilpul? Nein; hier trifft das Miggo- Prinzip zu.»
    «Das ist was Neues. Damit haben Sie mich noch nie aufs Kreuz gelegt … Wie funktioniert denn das?» Lanigan war wider Willen interessiert.
    «Nennen wir es das Prinzip der abgeleiteten Glaubwürdigkeit. Der Rabbi pflegt es bei der Rechtsprechung anzuwenden. Es beruht auf der psychologischen Wahrscheinlichkeit, dass sich niemand eines schwerwiegenderen Verbrechens schuldig bekennt, wenn er sich damit aus der Affäre ziehen kann, ein leichteres zuzugeben.»
    «Also … Nein. Da komm ich nicht mit.»
    «Ich gebe Ihnen ein klassisches Beispiel: Eine heiratsfähige Frau kommt aus einem fremden Land in eine Gegend, wo sie keiner kennt. Sie sagt, sie sei verheiratet gewesen und geschieden und könne jetzt wieder heiraten. Man glaubt ihr beides, sowohl die Heirat als auch die Scheidung, denn sie hätte ebenso gut verschweigen können, dass sie je verheiratet war.»
    «Schön und gut, aber was hat das mit unserem Fall zu tun?»
    «Nachdem die Jungen den Toten von der Plastikhülle befreit hatten, wies nichts mehr auf einen Mord hin. Sie hätten den Mund halten können, und Sie hätten angenommen, Moose sei eines natürlichen Todes gestorben – oder doch auf alle Fälle keines gewaltsamen Todes: alle Anzeichen einer Alkoholvergiftung, keine äußeren Verletzungen … Aber die Jungen machten aus ihrer Entdeckung kein Hehl; sie haben Ihnen alles erzählt. Ich meine, bei Anwendung des Miggo -Prinzips spricht das für ihre Unschuld.»
    Lanigan stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab; der Rabbi beobachtete ihn schweigend. Schließlich blieb der Polizeichef vor ihm stehen und breitete hilflos die Arme aus:
    «Was soll ich tun, Rabbi? Ich habe die Eltern angerufen – keine Antwort. Das Mädchen sagt, ihre Eltern sind im Kino; in welchem, weiß sie nicht … Soll ich sie vielleicht in allen Kinos der Stadt ausrufen lassen? Der junge Gorfinkle hat endlich damit herausgerückt, dass seine Leute zu seiner Tante gefahren sind; wie ich dort anrufe, heißt es, gerade sind sie aufgebrochen. Und die Jacobs sind auf einer Party in Boston; Bill weiß nicht einmal, wie die Leute heißen – sagt er … Begreifen Sie doch, dass ich sie nicht laufen lassen kann , bevor ich die Eltern aufgetrieben habe – es sind doch alles noch Minderjährige.»
    «Hören Sie auf mich und lassen Sie sie laufen! Wenn Sie warten, bis die Eltern anrücken, haben Sie hier ein Irrenhaus voller hysterischer Mütter und gerade aus dem Bett getrommelter Anwälte; es wird gegenseitige Beschuldigungen hageln, und morgen früh kursieren die wildesten Gerüchte in der Stadt, bringen Unschuldige und Unbeteiligte in Verlegenheit … All das wird Ihre Untersuchung ganz erheblich komplizieren.»
    Lanigan schüttelte störrisch den Kopf. «Wenn es sich später herausstellen sollte, dass doch jemand von diesen jungen Leuten mit dem Mord zu tun hat, dann bin ich der Vollidiot, der einen Mörder heimgeschickt hat, den er schon auf der Wache … Ja, was ist, Tony?»
    Ein Streifenbeamter war eingetreten. «Kann ich Sie mal ’n Moment sprechen, Chef?»
    Die beiden verzogen sich in eine Ecke. Der Streifenpolizist flüsterte; Lanigan unterbrach ihn nach einer Weile mit einer gemurmelten Frage; neuerliches Geflüster.
    Endlich sagte der Chef: «Danke, Tony; das bringt uns schon weiter …» Und zum Rabbi gewandt: «Also gut, Rabbi: Die jungen Leute können heimgehen – wenn Sie dafür haften, dass sie jederzeit erreichbar sind.»
    Der Rabbi zögerte einen Augenblick. Dann sagte er: «Einverstanden. Ich übernehme die Verantwortung.»
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    Sie diskutierten schon fast eine Stunde, und noch war keine Einigung in Sicht. Ab und zu appellierte jemand an den Rabbi, damit der unterstütze, was der jeweils Sprechende vorgeschlagen hatte, aber der Rabbi ließ sich nicht

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